
Seit mehr als 40 Jahren spielt im Neoliberalismus die Kapitalseite mit den Lohnabhängigen ein mieses Spiel: Gewinne werden privatisiert, Verluste sozialisiert. Damit das möglichst reibungslos klappt, bedient man sich eines unsozialen Populismus, der Menschen, die gleiche oder ähnliche Interessen miteinander teilen, gegeneinander ausspielt, indem Neid geweckt wird. Da wird dann der Kassiererin oder dem Pfleger, die sich morgens zur Arbeit schleppen, um nach einer harten Schicht schlecht bezahlt nach Hause zu kommen, eingeredet, es sei höchst ungerecht, dass sie für einen niedrigen Lohn schuften, während Arbeitslose es sich mit einem leistungslosen Einkommen in der sozialen Hängematte bequem machten.
Herz und Hirn
Ergibt das Sinn? Natürlich nicht. Manipulieren aber Medien wie die Bildzeitung immer wieder Einzelfälle wie den vom berüchtigten Arno Dübel („Deutschlands frechster Arbeitsloser“, „so gammelt er sich durch den Tag“, 2010) zur Regel, dann geht das an den Herzen und Gehirnen der Menschen nicht spurlos vorbei. Dann gilt nicht mehr der miese Löhne zahlende Konzern als verantwortlich für die persönliche Misere, sondern Leistungsempfänger und Langzeitarbeitslose, die auf die Solidargemeinschaft angewiesen sind.
Habenichtse gegen Habenichtse
Zudem blenden solche Empörungskampagnen bewusst aus, dass die Lohnempfängerin von heute schon morgen selbst Leistungsempfängerin sein könnte, wenn mal wieder Stellen im Betrieb vernichtet werden. Das Ergebnis solcher nach unten tretenden Kampagnen, in denen die „Habenichtse mit Arbeit“ den „Habenichtsen ohne Arbeit“ nicht das Schwarze unter den Fingernägeln gönnen, ist desaströs: Entsolidarisierung und Vereinzelung – und damit ein Machtverlust der Lohnabhängigen, infolgedessen die Kapitalseite umso leichter ihren obszönen Reichtum auf Kosten der Gesellschaft mehren kann.
An der Staatskasse vorbei
Wer es aber wagt, die leistungslosen Einkommen der Superreichen anzusprechen, wird von Bild & Co. schnell des Neids gegen „Leistungsträger“ verdächtigt. Leistungsträger wohlgemerkt, die in den letzten zehn Jahren bei mehr als der Hälfte der Erbschaften oder Schenkungen über mindestens 100 Millionen Euro keinen Anteil an die Staatskasse abdrückten; von 463 solcher Fälle seien in mindestens 258 keine Steuern gezahlt worden, berichtete dpa im September.
Aufklärung und Gefühle
Es bleibt die Frage, hinter welchem Anliegen die benachteiligte Mehrheit wieder vereint werden kann, um für ihre ureigenen Interessen einzutreten. Das ist zweifelsohne die Mietpolitik. Bundesweit lebt mehr als jeder Zweite zur Miete, die BRD ist Mieterland Nummer eins in der EU. In Berlin liegt der Mietanteil in manchen Bezirken sogar bei 90 Prozent. Und die Mietkrise spitzt sich zu: Die Angebotsmieten sind im Vergleich der Jahre 2023 und 2024 um 12 Prozent gestiegen, während Löhne und Gehälter bestenfalls stagnieren. Der Volksentscheid von 2021, bei dem die Berlinerinnen und Berliner mit 56 Prozent für die Enteignung von Immobilienkonzernen gestimmt haben, zeigt, dass die Wohnfrage schicht- und klassenübergreifend mobilisiert. Denn die, die da zugestimmt haben, waren nicht ‚nur‘ einfache Lohnabhängige, prekär Beschäftigte oder Leistungsempfänger. Nein, mit Angestellten, Facharbeitern, Beamten, Gewerbetreibenden und Kleinunternehmern waren Milieus mit im Umverteilungsboot, die sonst kaum als erste Adressaten linker Politik gelten. Vorausgegangen war dem eine emotionalisierende und aufklärende Kampagne der Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“. Derweil versucht der schwarz-rote Berliner Senat alles, um das demokratische Mehrheitsvotum mit angeblichen Expertenkommissionen zu beerdigen.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Vorwärts 2026
Intro – Kopf oder Bauch?
„Glaubwürdigkeit ist ein entscheidender Faktor“
Teil 1: Interview – Sprachwissenschaftler Thomas Niehr über Sprache in Politik und Populismus
Im Krieg der Memes
Teil 1: Lokale Initiativen – Saegge klärt in Bochum über Populismus auf
Worüber sich (nicht) streiten lässt
Teil 2: Leitartikel – Wissenschaft in Zeiten alternativer Fakten
„Dass wir schon so viel wissen, ist das eigentliche Wunder“
Teil 2: Interview – Neurowissenschaftlerin Maria Waltmann über Erforschung und Therapie des Gehirns
Über Grenzen hinweg entscheiden
Teil 2: Lokale Initiativen – Das Experimentallabor Decision Lab Cologne
Noch einmal schlafen
Teil 3: Leitartikel – Ab wann ist man Entscheider:in?
„Zwischen Perfektionismus und Ungewissheit“
Teil 3: Interview – Psychiater Volker Busch über den Umgang mit schwierigen Entscheidungen
Weil es oft anders kommt
Teil 3: Lokale Initiativen – Gut aufgestellt in Wuppertal: Pro Familia berät zu Schwangerschaft, Identität und Lebensplanung
Keine Politik ohne Bürger
Wie Belgien den Populismus mit Bürgerräten und Dialogforen kontert – Europa-Vorbild: Belgien
Der Marmeladen-Effekt
Eine interaktive Mission durch die Küchentischpsychologie – Glosse
Gleiches Recht für alle!
Teil 1: Leitartikel – Aufruhr von oben im Sozialstaat
Gerechtigkeit wäre machbar
Teil 2: Leitartikel – Die Kluft zwischen Arm und Reich ließe sich leicht verringern – wenn die Politik wollte
Die Mär vom Kostenhammer
Teil 3: Leitartikel – Das Rentensystem wackelt, weil sich ganze Gruppen der solidarischen Vorsorge entziehen
Streiken statt schießen
Teil 1: Leitartikel – Das im Kalten Krieg entwickelte Konzept der Sozialen Verteidigung ist aktueller denn je
Herren des Krieges
Teil 2: Leitartikel – Warum Frieden eine Nebensache ist
Unser höchstes Gut
Teil 3: Leitartikel – Von Kindheit an: besser friedensfähig als kriegstüchtig
Unbezahlbare Autonomie
Teil 1: Leitartikel – Die freie Theaterszene ist wirtschaftlich und ideologisch bedroht
Inspiration für alle
Teil 2: Leitartikel – Wer Kunst und Kultur beschneidet, raubt der Gesellschaft entscheidende Entwicklungschancen
Der Kulturkampfminister
Teil 3: Leitartikel – Wie Wolfram Weimer sein Amt versteht
An den wahren Problemen vorbei
Teil 1: Leitartikel – Journalismus vernachlässigt die Sorgen und Nöte von Millionen Menschen
Teuer errungen
Teil 2: Leitartikel – Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss bleiben – und besser werden
Journalismus im Teufelskreis
Teil 3: Leitartikel – Wie die Presse sich selbst auffrisst