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Belgien fördert politische Bürgerbeteiligung
Foto: Arthimedes/Adobe Stock

Keine Politik ohne Bürger

19. Dezember 2025

Wie Belgien den Populismus mit Bürgerräten und Dialogforen kontert – Europa-Vorbild: Belgien

Auf Bundesebene hat Belgien 2023 als erstes Land weltweit sein Parlament formal ermächtigt, Bürgergremien und nationale Bürgerräte einzuberufen. Dieses Gesetz wird explizit als Antwort auf Vertrauensverlust und politische Polarisierung dargestellt, da geloste Bürgerpanels dem Parlament als zusätzlicher „Resonanzboden“ dienen und so populistischen Erzählungen von einer abgehobenen Elite entgegenwirken sollen.

Belgien hat in den letzten Jahren eine europaweit beachtete Infrastruktur für deliberative Demokratie aufgebaut, die der populistischen Polarisierung eine strukturierte, inklusive Debattenkultur entgegensetzt. Auf nationaler Ebene ermöglicht ein 2023 beschlossenes Gesetz die Einsetzung von Bürgergremien und die Einberufung reiner Bürgerräte beim Parlament; geloste Bürgerinnen und Bürger beraten dort gemeinsam mit Abgeordneten, Empfehlungen fließen in die Parlamentsarbeit ein. Diese Architektur reicht von der Bundesebene bis in Regionen und Kommunen, wo bereits zuvor gemischte Ausschüsse und Bürgerversammlungen erprobt wurden.

Lernende Politik

Kern des Ansatzes ist die Losdemokratie: Teilnehmende werden mehrstufig zufällig ausgewählt, wodurch soziale Vielfalt und Sprachgruppen abgebildet werden, statt nur die lautesten Stimmen zu privilegieren. In Ostbelgien ist dieser Ansatz dauerhaft institutionell verankert: Ein Bürgerrat (gelost) setzt Themen, organisiert Bürgerversammlungen und übergibt Empfehlungen an das Parlament; so entsteht ein wiederkehrender, lernfähiger Zyklus zwischen Öffentlichkeit und Politik. Diese Verstetigung reduziert die Versuchung symbolischer Einmalformate und stärkt die Anschlussfähigkeit von Empfehlungen an Gesetzgebung und Verwaltung.

Belgiens Foren werden bewusst sprach- und parteiübergreifend angelegt. In der Region Brüssel-Hauptstadt arbeiten geloste Bürgerinnen und Bürger mit Abgeordneten an komplexen Themen wie Biodiversität, 5G, duale Ausbildung oder Obdachlosigkeit und erarbeiten Vorschläge, die anschließend politisch weiterverarbeitet werden.

Drei Beispiele

Drei konkrete Beispiele für umgesetzte Bürgerrats-Einflüsse aus dem Bürgerdialog in der deutschsprachigen Gemeinschaft Ostbelgien:

Pflegeverbesserung (Bürgerversammlung 2020): Aus 41 Empfehlungen wurden viele umgesetzt, darunter Einführung von Angehörigenräten und Ombudspersonen in allen Pflegezentren, neue Personalnormen, das Berufsbild „Alltagsbegleiter“ sowie Gehaltssteigerungen um durchschnittlich zwölf Prozent in der Pflege.

Inklusive Bildung (Bürgerversammlung 2021): Das Parlament verabschiedete 2022 ein Gesetz zur Schaffung eines Beirats für Menschen mit Behinderung (als öffentliche Organisation bestellt 2023); weitere Maßnahmen umfassen Förderpädagogik und inklusive Elternräte.

Bezahlbares Wohnen (Bürgerversammlung 2022): Zwanzig Vorschläge wirkten sich aus, z.B. Bedarfsanalysen für Wohnraum, finanzielle Unterstützung für jugendliche Wohnungssuchende und Förderung alternativer Wohnformen.

Wallonie

Ähnlich in der Wallonie: Dort können ebenfalls auf Initiative von Parlament oder Bevölkerung geloste Einwohner gemeinsam mit Abgeordneten Empfehlungen entwickeln, wodurch Zivilgesellschaft, Bürgerschaft und Mandatsträger strukturiert zusammenkommen.

Kommunal ist die Palette breit: Von Klima-Bürgerräten in Arlon, Forest, Namur und der Provinz Luxemburg über Verkehr in Gent und Kessel-Lo bis zu Radikalisierungsprävention und sozialem Zusammenhalt in Molenbeek-Saint-Jean. Jeweils mit klarer Problemfokussierung und transparenten Arbeitsaufträgen. Entscheidend ist die Kopplung der deliberativen Prozesse an politische Rechenschaft, etwa durch Berichtspflichten, Rückmeldeschleifen und die Verankerung im Mandat öffentlicher Institutionen.

Im politikwissenschaftlichen Kontext adressiert das belgische Modell zentrale Spannungen moderner Kommunikation. Populismus stellt ein Deutungsangebot dar, das Souveränität eines vermeintlich „betrogenen Volkes“, Anti-Elitismus, Skepsis gegenüber Institutionen und Vertrauen in charismatische Führung betont; seine Rhetorik ist häufig emotional übersteigert und wenig faktenorientiert. Deliberative Formate reagieren darauf nicht mit Gegen-Emotionalisierung, sondern mit Verfahren, die Repräsentation, Information und Respekt absichern: Vielfalt der Teilnehmenden, moderierte Sitzungen, evidenzbasierte Informationen und transparente Entscheidungen.

Drei Kriterien

Wie kann seriöse politische Kommunikation nun Kopf und Bauch bedienen? Erstens durch ernst gemeinte Beteiligung mit praktischer Wirkung; wenn Bürgerinnen und Bürger sehen, dass Empfehlungen aufgenommen werden, wächst Vertrauen in Institutionen. Zweitens durch verständliche Sprache und transparente Verfahren. In Belgien werden komplexe Themen in überschaubare Fragen übersetzt und in gemischten Gremien bearbeitet. Drittens durch Ritualisierung des Dialogs: Wiederkehrende Formate verhindern, dass Konflikte nur im Krisenmodus verhandelt werden.

Offene Einladung, Auslosung, Evidenz, dokumentierte Antworten der Politik schaffen mehr Legitimität als Eskalationsrhetorik. Gleichzeitig sind emotionale Dimensionen nicht tabu: Bürgerforen ziehen die Erfahrungen von Betroffenen heran, begehen Orte und entwerfen anschauliche Szenarien.

Wie lassen sich berechtigte Gefühle von Benachteiligung adressieren? Indem Betroffene selbst priorisieren, worüber gesprochen wird und die Politik erklärt, was umgesetzt wurde, was nicht und warum. Das Ostbelgien-Modell zeigt, dass selbst in kontroversen Bereichen wie Pflege, Wohnen oder Bildung belastbare Kompromisse entstehen können, wenn Zeit, Moderation und Rechenschaft gesichert sind. Die Einbindung von Bürgern ersetzt keine gute Politik, sie macht Politik besser.

Aber nicht in Deutschland

Ähnliche Vorhaben in Deutschland treffen derweil auf entschiedenen Widerstand aus der vordersten Reihe der Politik: In den letzten Jahren wuchs das Interesse an gelosten Bürgerräten auf Bundes- und Länderebene; Pilotgremien wurden u.a. beim Bundestag erprobt. Mit dem neuen Gremium des Bürgerrats probierte der Bundestag in der vergangenen Wahlperiode erstmals offiziell Empfehlungen für das Parlament zum Thema „Ernährung im Wandel“ aus. Weil sich die schwarz-rote Koalition nicht auf einen neuen Bürgerrat einigen kann, wurde die zuständige Stabsstelle im Bundestag im November 2025 aufgelöst. „Der größte Bürgerrat in Deutschland ist das demokratisch gewählte Parlament“, hat Parlamentspräsidentin Julia Klöckner (CDU) in einem Interview gesagt. „Der Eindruck muss vermieden werden, die Bedeutung des Parlaments und der frei gewählten Parlamentarier würde geschmälert.“

Inés Carrasco

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