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Zielscheibe Mensch
Foto: Theater Moers

„Ein trotziges Dennoch“

28. August 2014

Waffengewitter und Verlust des Privaten: In Moers inszeniert Ulrich Greb seine Gegenwarts-Vision – Premiere 09/14

„The only thing that stops a bad guy with a gun is a good guy with a gun“– der ausufernde Stücktitel stammt von Wayne LaPierre, dem Chef der US-amerikanischen Waffen-Lobby National Rifle Association.Ein Satz, den er am 21.12.2012 nach dem Amoklauf in der Grundschule von Newtown/Connecticut, bei dem 20 Schüler und sechs Erwachsene erschossen wurden, benutzte. Diese besondere Logik steht in Moers im Zentrum der musikalischen Produktion, die mit Mitteln der Groteske das Spannungsfeld zwischen galoppierendem Sicherheitswahn und dem Verlust der Bürgerrechte auslotet. Das Stück spielt in der friedlichen Eigenheim-Atmosphäre der Familie Henderson, die sich nach und nach zur Kampfzone ausweitet. trailer sprach bei den Proben in der Moerser Festivalhalle mit Regisseur Ulrich Greb.

trailer: Haben wir das Ende der Welt bald erreicht?
Ulrich Greb:
Das haben wir schon seit etlichen tausend Jahren. Wir sind immer am Ende und immer geht es weiter. Im Theater sind wir da gut aufgehoben, wenn wir Katastrophen behandeln. Was wir auf der Bühne machen, ist ein bisschen wie ein trotziges Dennoch.Wie in der REM-Nummer am Schluss:„It’s the end of the world as we know it and I feel fine“.

Das Stück thematisiert musikalisch auch das absolute Ende der Privatsphäre.

Ulrich Greb
Foto: Christian Nielinger
Ulrich Greb ist seit 1991 freischaffender Schauspiel- und Opernregisseur. Seit der Spielzeit 2003/2004 ist er Intendant des Schlosstheaters Moers und nach dem Betriebsformwechsel 2008 geschäftsführender Intendant der gemeinnützigen Schlosstheater Moers GmbH. Seit 2011 ist er darüber hinaus Geschäftsführer der Moers Kultur GmbH, die das international renommierte moers festival für Improvisierte Musik veranstaltet.

Das schien uns der einzig gangbare Weg zu sein, so ein beklemmendes Thema umzusetzen. Wir erfahren aus den Medien täglich von neuen Eskalationen und komischerweise habe ich dennoch immer meinen Computer dabei oder telefoniere mit einem Smartphone. Wir sind alle davon betroffen und sehen, dass die Privatsphäre sich auflöst, wir stehen aber daneben und sagen: „komisch, vor 30 Jahren wäre wir noch auf die Straße gegangen und hätten gegen die Datenerfassung protestiert“. Jetzt gebe ich meine Daten freiwillig, um von Amazon Bücher zu kriegen, noch bevor ich mir die gewünscht habe.

Verlieren wir als Bürger die Hoheit oder hatten wir die nie?
Da bin ich durchaus pessimistisch. Ich glaube, die hatten wir nie. Aber wir hatten schon mal den Eindruck, wir könnten mehr bewegen. Das ist ja vielleicht das Eklatanteste, was man im Moment beobachten kann. Dass man als Bürger die Hoheit verliert, aber auch die Politik die Hoheit verliert, dass wir in irgendwelchen Systemen und wirtschaftlichen Zusammenhängen sind.Das Spiel ist immer schon weitergespielt und es geht nur um ökonomische Interessen. Das ist auf eine Weise deprimierend, aber ich glaube, es gibt keinen anderen Weg, als immer wieder laut drüber zu sprechen, mal ernst, politisch nachdrücklich oder wie hier im Theater mit einem bisschen Humor.

Das Stück hat kein Happy End?
Das würde ich so nicht sehen. Das Gute an dem Stück ist, dass es sich immer, wie bei einem Computerspiel, reloaded und wieder bei Eins anfängt. Jetzt wissen wir von Beckett, dass das eigentlich schlimmer als die Hölle ist, oder schlimmer als der Tod, wenn alles immer wieder von vorne losgeht. Aber man steigt nie zweimal in denselben Fluss und möglicherweise gibt es in irgendeiner Wiederholung einen neuen Ausgang oder eine Variante des Spiels. Aus dem Spiel selbst ist, glaube ich, schwer rauszukommen.

Haben die aktuellen Kriege der Gegenwart das Szenario des Stücks nicht längst überholt?
Die Frage stellen wir uns natürlich. Wenn man sich so nah an die Aktualität klemmt, mit einem Stück praktisch der Realität hinterherläuft, ist klar, dass man die immer nur von hinten sieht, überholen können wir sie nicht. Und die Frage ist immer, ob an anderer Stelle womöglich etwas noch Schlimmeres passiert und das Thema, das wir hier haben, nivelliert. Ich glaube, dass das die Aufgabe der Privatheit und als Individuum immer mehr zum Nutzerprofil zu werden, unabhängig von IS und vom Krieg in Israel ist. Man kann in ein Stück nicht die gesamte aktuelle Problematik reinpacken.

Jetzt passiert ja der Eingriffin die Familie eigentlich durch „irgendwen“ – wir kennen den nicht. Wer kontrolliert die Kontrolleure?
Wir haben ja zwei Ebenen im Stück. Eine Autorität, die sich auch direkt an die Zuschauer wendet, ist die Figur eines Politikers, in dem natürlich verschiedene Politikergestalten drinstecken. Dieser Politiker ist in dem Musterhaus auf der Bühne auch auf dem Fernseher live zu erleben. Unser Ehepaar Henderson kennt den auch, schätzen seine konservativen Ansichten. Sie finden es gut, dass sie sicher leben und dass da nichts passiert. Dann haben wir noch eine zweite Ebene, die im Stück übergeordnet ist, so wie eine Art Operator, eine Stimme, die von draußen aus dem Nichts kommt. Da ist allerdings fraglich, wer die ist und wer sie kontrolliert. Das ist natürlich Science Fiction und die Stimme selbst sagt, sie sei ein Algorithmus. Sie nimmt eine Form an, die gewünscht wird, aber letztlich ist das ein Bot, ein Roboter, der schon längst angefangen hat, sich unabhängig zu verhalten. Es gibt Untersuchungen, dass schon 60 Prozent der Internetaktivitäten sowieso Bot-Traffic ist und gar nicht mehr von Menschen beeinflusst wird. In dem Zusammenhang fand ich zwei Dinge bemerkenswert, einmal die neuesten Berichte von Snowden, wo er über Monstermind gesprochen hat, diese Software, die gegen Cyberattacken vorgeht, aber auch selbst angreift und das eben – das sei schließlich die Zukunft – völlig unabhängig vom menschlichen Interventionen, also auch von möglichen moralischen Überlegungen. Diese Überlegung, dass Maschinen zuverlässiger sind als wir, hat der Kybernetiker Herman Kahn 1967 bei seinen Doomsday-Maschinen in den Zukunftsvorhersagen auch gehabt. Es ist die Maschine, die die Erde als Gegenschlag komplett zerstört und wo es ganz wichtig war, dass kein Mensch da einen Zugriff drauf hat

Jetzt haben wir das Stück gesehen: Wie sollen wir reagieren?

Die Frage kann man sich nach jedem Stück stellen, wie reagiert man nach Hamlet?

Handy wegwerfen?
Ich glaube, wir können auf eine unterhaltsame, bissig-komische Weise zeigen, wie extrem und unverschämt bestimmte politische oder militärische Visionen schon längst Realität geworden sind. Dass man das durch das Brennglas, das wir darauf richten, wahrnimmt. Der nächste Schritt, wenn das nicht eine Erfindung ist, und das kann ich garantieren, denn die schlimmsten Sachen sind nicht von mir erfunden, sondern haben Menschen so gesagt oder sind so passiert, ist, dass jeder für sich die Konsequenzen daraus zieht. Ich merke, dass ich mir seit einiger Zeit zumindest genauer überlege, was ich im Handy sage, was ich als Email formuliere, ob ich nicht lieber warte, dass ich jemanden sehe und ihm das mündlich sage. Das fängt so an, ist aber wahrscheinlich immer noch viel zu naiv gegenüber der flächendeckenden Kontrolle.

„The only thing that stops a bad guy with a gun is a good guy with a gun“ | Do 11.9.(P), Fr 12.9., Sa 20.9. 19.30 Uhr | Festivalhalle Moers | 02841 883 41 10

INTERVIEW: PETER ORTMANN

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