Ist es eine bewaldete Finsternis, durch die wir rauschen? Oder sind wir auf Lausgröße geschrumpft und lassen uns die Fasern eines Polyesterflokatis um die Ohren hauen? Die erste Szene der Vorführung lässt Platz für Assoziationen. Das Gefühl, verloren durch fremdartiges Gestrüpp zu rasen, ist aber ihre Grundlage. Der Name dieses ersten Programmpunktes des DIVE-Festivals hingegen legt eine Deutung nahe: „Dunkler Wald“ von Florian Hartlieb ist da zu sehen. Die zweite von insgesamt vier Szenen entfernt sich allerdings auf den ersten Blick vom Wäldlichen, um Platz zu schaffen für eine visuell ruhigere Stimmung. Blanke Kacheln, Kreuzmuster, eine Frau mit Musikinstrument. Die Violine rückt in den Vordergrund. Der Effekt, dass die Planetrariumskuppel unser gesamtes Blickfeld einnimmt, also quasi zu unserer Welt wird, ist hinfort. Die Kuppel ist nur noch eine Projektionsfläche, eine gekrümmte Kinoleinwand. War es das mit der Immersion? Mitnichten, denn wer ist denn nicht schon mal in ein Lied eingetaucht?
„DIVE – Immersive Arts Festival“ heißt die erste große Kooperation zwischen Schauspielhaus und Planetarium. Immersiv, was heißt das überhaupt? Der Begriff bezeichnet das Eintauchen, das komplette Umschlungenwerden von einem Medium. Wie wenn man beim Lesen eines spannenden Romans die Welt um sich vergisst, wie die multimediale Illusion beim Computerspiel. Oder im Planetarium. Das Erlebnis des Planetariums ist schon immer immersiv gewesen. Doch erst in den letzten Jahren entdecken Theater und darstellende Kunst das Konzept für sich neu. Das passt in den Zeitgeist. Bewegungsspiele vor der Spielekonsole, virtuelle und erweiterte Realität halten Einzug. Das klingt so schön nach Zukunft. Wie passend ist es da, dass die Beleuchtung des Planetariums das Gebäude erscheinen so erscheinen lässt, wie man sich ein Restaurant am Rande des Universums vorstellen würde.
Susanne Hüttemeister ist Leiterin des Planetariums und Professorin für Astrophysik an der Ruhr-Universität Bochum. Mit kurzen, aber enthusiastischen Worten eröffnet sie den künstlerischen Teil des Festivals im Planetarium. (Ihrer kleinen Ansprache voraus gingen die offizielle Eröffnung an der Zeche Eins am Vortag, wo auch schon die „Sensefactory“ zu erleben war, und ein Vortrag von Ludger Brümmer von der Kunst-Institution ZKM Karlsruhe). Die Begeisterung der Astronomin für das DIVE-Festival vermittelt, wie viel Freude die Verbindung von Wissenschaft, Lehre, Kunst und Unterhaltung machen kann. Freunde des Planetariums wissen, dass es unter der Kuppel längst nicht nur um Sternbeobachtung geht. Oft genug unterstützen zwar immersive Präsentationen die lehrreichen Darbietungen. Doch Musikshows, Lesungen, Konzerte und mehr gehören schon lange zum regelmäßigen Repertoire der Einrichtung.
So tritt der Pianist Kai Schumacher öfter in Planetarien auf, in Bochum zuletzt 2018. Seine Interpretationen von Klavierklassikern des 20. und 21. Jahrhunderts, entwickeln zusammen mit den reduzierten Projektionen eine trancefördernde Wirkung. Die Musik dreht sich um den Stil des musikalischen Minimalismus. Zwischen Klassik und Pop schwelgt, schwimmt und schwebt der Zuhörer durch ebenso minimalistische, wiewohl effektvolle Formenwelten.
Weniger zurückhaltend zeigte sich Chikashi Miyama, der die Persönlichkeiten eines Künstlers, Wissenschaftlers und Programmierers in sich vereint. Tanzend nimmt er nicht nur die rot erleuchtete Bühne, sondern auch den Raum um den großen Sternenprojektor ein. Doch seine Tanzperformance „Trajectories“ geht bei dem eindrucksvollen Spektakel, das er mit seinen Bewegungen verursacht, unter. Mit Datenhandschuhen ausgestattet beeinflusst er das schwarzweiße Geschehen auf der Kuppel. Fluffige Raketen wechseln sich mit blumigen Feuerwerken ab, bevor diese exzentrischen Zündschnüren weichen müssen. Wellen aus Schnüren werden zu dicken, groben Pinselstrichen und Kugeln der Frustration. Die Wut eines Comiczeichners tobt über unseren Köpfen. Begleitet wird das Ganze von einer Geräuschkulisse, die sich anhört wie Strom klingen würde, wenn er wirklich flüssig wäre. Jubel vom Publikum.
Ulf Langheinrich im Anschluss nutzt das Element der Monotonie für sich. Das ist keineswegs negativ gemeint! In der bereits 2006 speziell für das Medium der Kuppel entwickelten Arbeit „Hemisphere“ flirren und flackern nebulöse Muster durchs Gesichtsfeld. Mal wühlt sich etwas durch das Sediment, mal fliegen wir durch kosmische Wolken. Und die Wolken formen sich zu einem Athleten, zu einem Elefanten, zu großen Schlachtszenen mit großem Kriegsgerät. Doch nein, in Wirklichkeit bleibt alles abstrakt. Es ist nur unser Gehirn, die in diesem formlosen Rauschen einen Sinn zu erkennen versucht.
„Nichts für Epileptiker“ wird im Vorfeld zu Langheinrichs zweiter Arbeit gewarnt. „Lost“ arbeitet nämlich nicht mit Projektionen, sondern mit Stroboskopen. Rund 20 Minuten lang wechseln sich vor allem rote und blaue Lichter mehrmals die Sekunde ab. Das ist genau der Effekt, mit dem die Anime-Serie „Pokémon“ 1997 in Japan nahezu 700 Kinder krankenhausreif epileptiert hat. Die Folge „Dennō Senshi Porigon“ wurde daher nie wieder ausgestrahlt. Und nun „Lost“. Tatsächlich verließen einige Besucher den Raum. Schauspielhaus-Dramaturg Tobias Staab nannte das Erlebnis „schön“. Ob dies das richtige Wort ist, darüber lässt sich streiten. Auf jeden Fall war es eindrücklich, einnehmend, berauschend und einzigartig.
Zum Abschluss werden zwei 360°-Projektionen von den Berliner Festspielen gezeigt. „Elektra“ ist die erste Arbeit von Metahaven und ein „visueller Essay über Knoten und Netze“, der Animation und Realfilm vermischt. „The Happiest Thought“ von Agnieszka Polska nimmt das größte Massensterben der Erdgeschichte vor 250 Mio. Jahren als Ausgangspunkt für eine Reflexion über das Leben.
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