Hinter der Bühne des Dortmunder Theaters im Depot steht ein Flux-Kompensator. Genau, das Gerät, das Zeitreisen erst möglich macht, wohl im Jahre 2022 oder eher, genau weiß man es nicht. Helter Skelter. 2 Uhr in der Nacht. Wir befinden uns in einer U-Bahn-Station irgendwo. Sechs Sitze, ein Abfallkorb, die Rampe ist die Bahnsteinkante. Ein junger Mann stürmt verzweifelt der letzten Bahn hinterher, vergebens. Drei Stunden Wartezeit, aber Kai hat noch eine Flasche Fusel von der durchzechten Nacht. Da taucht eine seltsame Frau auf, die alle seine Unterhaltungsversuche nebst Anmache blockiert. Sie behauptet, sie sei seine Tochter Helen aus der Zukunft, mit der Lizenz zur postchronologischen Existenz und sie hat eine Waffe. Glücklicherweise hat Kai, der Nachwuchsliterat, bereits vom Großvaterparadoxon gehört und kringelt sich, doch Helen hat plausible Erklärungen und eben diese Knarre.
Der Dortmunder Schauspieler und Autor Markus Veith hat sein Zwei-Personen-Stück „Die erste Bahn“ selbst inszeniert. Sandra Wickenburg und Lars Lienen spielen die „zeitlosen“ Verwandten, absolut überzeugend und mit viel Gespür für theoretische Quantenwelten und missliche Lebenserfahrungen. Mal abgesehen davon, dass allein die Theorie einer möglichen Zeitreise das Stück um Stunden erweitert hätte, geht es in erster Linie um die Frage, wie der Mensch handeln würde, wisse er tatsächlich um die zukünftigen Folgen seines Tuns. Aus Kai jedenfalls wird ein Arschloch mit gesponsertem Bestseller-Roman werden (aus gegenwärtiger Sicht natürlich nur theoretisch), er wird seine Frau, die er in der nächsten U-Bahn erst treffen soll, verlieren, seine Tochter in der Zukunft psychisch quälen und dann aus diesen Gründen auch noch selbst den Anschlag auf sein Leben veranlasst haben. Der Gegenwarts-Kai ist schockiert, Helen ob seiner Reaktion verwirrt. Mehr wird hier nicht verraten, das Kammerspiel auf ziemlich vermüllter Fläche sollte man sich selbst ansehen und wie ich ins Grübeln kommen. Was ist mit alternativen Zeitlinien oder Paralleluniversen? Hat Kai tatsächlich noch eine Chance? Wenigstens theoretisch?
„Die erste Bahn“ | R: Markus Veith | Sa 7.3. 20 Uhr, So 29.3. 18 Uhr | Theater im Depot, Dortmund | 0231 98 21 20
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