Was den Amerikanern ihr Oregon-Trail ist, könnte für internationale Größen der Fotografie die Strecke zwischen Essen und Berlin sein, mit einem Pferdewechsel in Hannover. Jedenfalls wenn sie sich nach 1976 im neuen Zirkel der „Werkstatt für Photographie“ bewegten. Aus einer Volkshochschule heraus wurde die Fotografie erneuert, verändert, verwildert. Die hochinteressante Ausstellung „Das rebellische Bild“ zeigt jetzt im Essener Folkwang-Museum, im C|O Berlin und im Sprengel Museum Hannover die Situation um 1980, ein Blick auf die damals fast schon etablierten Kreuzberger und die junge neue Szene im Ruhrgebiet. Michael Schmidt, Gründer der Berliner Werkstatt für Photographie in Berlin-Kreuzberg war 1979 nach Essen gegangen. Da hatte Starfotograf Andreas Gursky die Schule nach dem Tod von Otto Steinert, einem der bedeutendsten Fotografen der Nachkriegszeit, bereits verlassen und hatte nach Düsseldorf zu Bernd Becher gewechselt. Die Verbindung zur Berliner Werkstatt aber stand. Hier wurden seine ganz frühen Arbeiten gezeigt, die aber schon, wenn auch ziemlich kleinformatig, seine künstlerische Haltung zum dokumentarischen Blick zeigen. Anders als die Bechers arbeitete er allerdings in Farbe und schoss alles, was ihn als Objekt oder Landschaft interessierte. Auch davon kann man sich in Essen überzeugen.
Doch auch andere Fotografen wie Joachim Brohm oder Volker Heinze stellten sich damals in Essen der Frage, was ein dokumentarisches Foto überhaupt ausmache zwischen Bildjournalismus und dem möglichen performativen Abbild der Wirklichkeit. Was wurde „State-of-the-art“ in den frühen 1980ern, als Ute Eskildsen (Schülerin von Otto Steinert) die Folkwang-Fotografie-Sammlung übernahm? Es wurde erst einmal eine Absage an das Einzelbild, und damit eine Öffnung für FotokünstlerInnen und auch für ambitionierte Amateure mit ihrem persönlichen Blick auf Region und Geschichte. Dennoch, in Berlin gibt es immer so etwas wie Nachhilfeunterricht. Fotografen wie Lee Friedlander und Diane Arbus sind in Ausstellungen zu sehen, auf dem Weg dahin sah man in der Spectrum Photogalerie im Sprengel in Hannover El Lissitzky oder Alexander Rodtschenko. Es war nicht nur ein Fototransit Ost-West, es wurde auch ein permanentes Erneuern von eigentlich gerade erst frisch Gedachtem. Die Ausstellung „New Topographics: Photographs of a Man-Altered Landscape“ 1975 im George Eastman House in New York machte diesen Zustand sichtbar. Nicht mehr die Natur selbst war abbildungswürdig, sondern ihre durch Menschenhand umgestaltete neue Realität. Neben Stephen Shore oder Robert Adams waren da auch Bernd und Hilla Becher zu sehen. Und erste Arbeiten der amerikanischen „New Color Photography“, deren Wirkung und Anerkennung auch nach Europa schwappte und deren Entdeckung als Medium für die Fotografie essentiell wurde. Kein Wunder, dass die mächtige Colenta RA40T die einzige gezeigte Foto-Labormaschine im Folkwang ist. Die Werkstatt für Fotografie wurde 1986 in der VHS Berlin-Kreuzberg sang und klanglos geschlossen und geriet schnell in Vergessenheit. Das dürfte sich glücklicherweise jetzt ändern.
„Das rebellische Bild – Situation 1980: Die Kreuzberger ‚Werkstatt für Photographie‘ und die junge Folkwang-Szene“ | bis 19.2. | Museum Folkwang | 0201 884 50 00
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