Selbstoptimierung trotz Konkurrenzdruck ist heutzutage en vogue. Kleine Armbänder senden Daten zur geistigen Selbstbefriedigung. Staat und Krankenkasse lesen gern mit, der Bürger bombardiert sie freiwillig mit allem, was einmal heilig war. Hätte George Orwell das alles gewusst, ha, sein dystopischer Roman „1984“ von 1949 hätte kaum anders aussehen können. Google, Facebook und die anderen planetaren Datensammler stecken alle großen Brüder längst in den Sack, wirklich süß, wenn aufgebrachte Bürger sich gegen Kameras an belebten Plätzen wehren, um anschließend den ganzen Bewegungsmuster-Scheiß als Echtzeit-Video ins Netz zu stellen. In Moers hat sich Intendant Uli Greb dem teuflischen System in der Spielzeit angenommen. Nach „The only thing that stops a good guy with a gun is a bad guy with a gun“ in der friedlichen Eigenheim-Atmosphäre der Familie Henderson, nun also totale Überwachung im totalitären Staat Ozeanien, Mensch sein bedeutet hier nichts mehr, hier wird wirklich alles überwacht. Mit den sprichwörtlichen hundert Argusaugen. Und sowas gibt es schon heute. Ich zitiere aus der Werbung: „Argus kontrolliert, was man isst, wie oft man trinkt, wie viele Kalorien man verbrennt, welche Wegstrecken man zurücklegt und sogar, wie es mit dem Herzrhythmus ausschaut.“ Eine App listet alles übersichtlich im Smartphone auf. Da hatte es der große Bruder in Orwells „1984“ schwerer, er musste gleich ein ganz neues Menschenbild entwerfen, und das tat er – mit Gewalt.
Uli Greb inszeniert assoziativ in einem gespiegelten Bühnenbild, nichts entgeht dem Zuschauer, auch nicht hinter Ecken und in Nischen. Seine Schauspieler im feinen Zwirn mit Nummern hinten drauf tanzen den Reigen der Macht und bis zu einem gewissen Grad auch für die Teilhabe daran, sie kontrollieren sich nämlich gegenseitig, im Notfallkoffer liegt für den Notfall immer ein Revolver. Finale Auslese eben, dafür zuckersüß im Gleichschritt zu James-Last-Weisen, auch das vielleicht Teil der Moerser Menschheits-Folter. Eindrucksvoll dazu ein Meer aus Disco-Kugeln und die ewige Angst vor der Vergangenheit. Denn: „Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft: wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit.“ Auch dieses Orwell-Zitat haben die Mächtigen der Welt immer beherzigt und sich die Geschichte schön und häufig falschgeschrieben. Dennoch: In Ozeanien brechen 3845 (Katja Stockhausen) und 6079 (Patrick Dollas) aus, fliehen vor dem Ministerien für Wahrheit, worin Menschen spurlos verschwinden und die Gedankenpolizei wütet. Beziehungen sind verboten, selbst die Gedanken sollen eben nicht mehr frei sein. 2713 (Marissa Möller) und 5691 (Matthias Heße) haben sich dagegen arrangiert, Selbstoptimierung trotz Konkurrenzdruck, Menschen von heute? Neusprech, Altsprech, Wörterreduktion zur Fantasiekontrolle, geht nicht? Von wegen. Winston Smith (6079) sieht die Rattenplage inzwischen überall, seine phobische Angst davor wird panisch, verzweifelt will er sich erinnern mit Julia (3845), doch Liebe im Totalitarismus geht gar nicht, selbst die Untergrundorganisation wurde vom großen Bruder (Frank Wickermann) nur geschaffen, um Abweichlern habhaft zu werden und sie im „Zimmer 101“ des Ministeriums für Liebe umzudrehen fürs angewandte Doppeldenk.
Drastisch zeigt das Ensemble diesen Vorgang, das bisschen nackte Freiheit müssen die Liebenden teuer bezahlen, mit Folter und Erniedrigung bis zum Exzess. Doch immer wieder bricht Greb das Grauen mit choreografischen Einlagen, mit Lichtwechseln und merkwürdigen Geräuschen im Hintergrund. Unter der Folter im „Ministerium für Liebe“ bricht Winston Smith am Ende psychisch zusammen, verrät selbst Julia. Er glaubt nun an seine neu entdeckteLiebe zum Großen Bruder und damit endlichfrei zu sein. Die merkwürdigen Geräusche im Hintergrund nehmen zu. Eine weiße Masse quillt hervor, bläst sich langsam auf, verdrängt Schauspieler und Requisiten. Und sie kommt näher. Mickey Maus? Der Marshmallow-Man aus Ghostbusters? Nein. Eine riesige weiße Ratte füllt die Bühne, bereit für die Zuschauer. Wir stecken alle schon mittendrin.
„1984“ | Di 3.3., Fr. 6.3. 19.30 Uhr | Schlosstheater Moers | 02841 883 41 10
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