Reisen bildet. Und jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Aber so eine Fahrt ins Unbekannte hat neben einem Startpunkt auch ein Ziel, eine Ankunft, vielleicht irgendwo im Nirgendwo. Theater bildet auch, gleich um die Ecke oder etwas weiter entfernt. Manches kennt man, anderes muss man kennenlernen. Genug der Plattitüden. Frage: Was haben die Orte Theben, Güllen und Trochenbrod gemeinsam? Eigentlich nichts, außer dass sie im April in Theaterstücken Ziele sind, die Personen erreichen, gewollt oder ungewollt, mit zum Teil haarsträubenden Folgen, mit Erkenntnissen aufwarten, mit Antworten dienen oder einfach nur nachdenklich machen.
Beginnen wir mit Güllen, einer Stadt im Irgendwo, wo man auf die Zukunft wartet und die Gegenwart versaubeutelt hat. Man ist pleite, man ist am Ende, selbst Durchschlagen kann man dort vergessen. Hoffnung setzt man auf eine Heimkehrerin, die anreist um endlich wieder Geld in die Stadt zu pumpen, denn Claire Zachanassian, früher Klara Wäscher, hat es inzwischen zu schier unermesslichem Reichtum gebracht. Doch Friedrich Dürrenmatt wäre nicht Friedrich Dürrenmatt, wenn es nicht bekanntermaßen einen klitzekleinen Haken an der Milliarde Euro gäbe, die die alte Dame investieren will. Man müsste ihren ehemaligen Geliebten umbringen, der sie damals schwanger verlassen hat. Natürlich geht niemand auf das unmoralische Angebot ein, vorerst. Denn Reichtum korrumpiert. Wie weit eigentlich? Oder war ihre Reise umsonst? Der „Besuch der alten Dame“ ist jedenfalls immer wieder eine Anfahrt wert.
In Theben fragt sich ziemlich schnell auch der siegreiche Feldherr Amphitryon, ob seine Anreise die Anstrengung wert war. Nichts ist zuhause wie es mal war, und selbst seine Wahrnehmung scheint nicht mehr Wahrheit zu spiegeln. Alkmene, das geliebte Weib, ist gar nicht überglücklich ihn zu sehen, denn er war ja schon da – in der letzten Nacht, als Amphitryon dummerweise noch auf der Reise war, oder doch nicht? Auch seine Gefährten müssen beim göttlichen Identitätsdiebstahl leiden, verlieren Sicherheit und beinahe den Verstand. Es war schon immer so. Wenn Götter böse Spiele treiben ist das genauso schlimm, wie die superreicher Mitbürger, die sich selbst Rechthaben schlicht erkaufen können und selbst Heinrich von Kleists Auflösung der dunklen Wahrnehmungsstörung in seinem „Amphitryon“ hinterlässt immer einen faden Beigeschmack. Ach.
Im Theater Essen ist gleich alles ungleich heller. In seinem Debüt-Roman „Alles ist erleuchtet“ (2002) begibt sich Jonathan Safran Foers fiktives Alter Ego auf die Spur seiner im Holocaust verfolgten Vorfahren und dafür auf die Reise nach Trochenbrod in der Ukraine. Dort sucht er die Frau, die seinen Großvater 1942 vor den Nazis gerettet haben soll. Als Dolmetscher engagiert er den Ukrainer Alex, der selbst gerade an einem Roman arbeitet. Dummerweise erweisen sich seine „erstklassigen“ Englischkenntnisse eher als vage, dafür brennt seine Liebe zur amerikanischen Popkultur. Durch die Landschaft gefahren werden sie von Alex’ Großvater, nach eigener Auskunft blind und völlig orientierungslos, aber der hat immerhin seinen Blindenhund Sammy Davis Jr. Jr. dabei. Was für eine Reise.
„Besuch der alten Dame“ | Do 30.4.(P) | Schauspielhaus Bochum | 0234 33 33 55 55
„Amphitryon“ | Do 23.4.(P) | Schlosstheater Moers | 02841 883 41 10
„Alles ist erleuchtet“ | So 19.4.(P) | Theater Essen | 0201 812 26 00
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
„Der Text hat viel mit heute zu tun“
Regisseurin Felicitas Brucker über „Trommeln in der Nacht“ am Bochumer Schauspielhaus – Premiere 04/25
Vorlesestunde mit Onkel Max
Max Goldt in den Kammerspielen Bochum – Literatur 01/25
Gegen Remigrationspläne
Elfriede Jelineks „Die Schutzbefohlenen – Was danach geschah“ am Schauspielhaus Bochum – Prolog 05/24
Ein Baum im Herzen
„Eschenliebe“ am Schauspielhaus Bochum – Prolog 03/24
Siehst du, das ist das Leben
„Der erste fiese Typ“ in Bochum – Theater Ruhr 06/23
Mit Psyche in die Unterwelt
„Underworlds. A Gateway Experience“ am Schauspielhaus Bochum – Prolog 01/23
Tonight's the Night
Musikalische Silvester an den Theatern im Ruhrgebiet – Prolog 12/22
Das Kollektiv als Opfer
„Danza Contemporanea de Cuba“ in Bochum – Tanz an der Ruhr 12/22
Zeichenhafte Reduktion
NRW-Kunstpreis an Bühnenbildner Johannes Schütz verliehen – Theater in NRW 12/22
„Es geht um eine intergenerationelle Amnesie“
Vincent Rietveld über „Bus nach Dachau“ am Schauspielhaus Bochum – Premiere 11/22
Keine Versöhnung in Sicht
„Einfach das Ende der Welt“ am Schauspielhaus Bochum – Prolog 10/22
The Return of Tragedy
Theater im Ruhrgebiet eröffnen die neue Spielzeit – Prolog 09/22
„Eine Welt, die aus den Fugen ist“
Kulturamtsleiter Benjamin Reissenberger über das Festival Shakespeare Inside Out in Neuss – Premiere 07/25
Der verhüllte Picasso
„Lamentos“ am Opernhaus Dortmund – Tanz an der Ruhr 07/25
Von Shakespeare bis Biene Maja
Sommertheater in NRW – Prolog 06/25
Tanz als Protest
„Borda“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 06/25
„Das Publikum ist verjüngt und vielfältig“
Opernintendant Heribert Germeshausen zum Wagner-Kosmos in Dortmund – Interview 06/25
„Da werden auch die großen Fragen der Welt gestellt“
Kirstin Hess vom Jungen Schauspiel Düsseldorf über das 41. Westwind Festival – Premiere 06/25
Morgenröte hinter KI-Clouds
Das Impulse Festival 2025 in Mülheim, Köln und Düsseldorf – Prolog 05/25
Das Vermächtnis bewahren
Eröffnung des Bochumer Fritz Bauer Forums – Bühne 05/25
Rock mit Käfern, Spiel mit Reifen
41. Westwind Festival in Düsseldorf – Festival 05/25
Von und für Kinder
„Peter Pan“ am Theater Hagen – Prolog 05/25
„Der Zweifel als politische Waffe“
Intendant Olaf Kröck über die Ruhrfestspiele 2025 in Recklinghausen – Premiere 05/25
Entmännlichung und Entfremdung
Festival Tanz NRW 2025 in Essen und anderen Städten – Tanz an der Ruhr 05/25
Von innerer Ruhe bis Endzeitstimmung
Die 50. Mülheimer Theatertagen – Prolog 04/25