Einen besseren Zeitpunkt gibt es nicht. Vor zwei Jahren wurde Michael Sailstorfer mit dem Kunstpreis „junger westen“ ausgezeichnet. Er ist aktuell an der „Emscherkunst“ in der Region beteiligt, und er hat unlängst die künstlerische Gestaltung eines Radweges auf einer ehemaligen Bahntrasse in Recklinghausen gewonnen. Seine Entwürfe für diese „Kunstmeile“ sind (neben denen der anderen Endrunden-Teilnehmer) derzeit im zweiten Geschoss in der Kunsthalle am Hauptbahnhof ausgestellt: fünf Lampenschirme, die den Weg erhellen und dabei „Mückenhäuser“ sind. Das alles aber ergänzt sich wunderbar mit dem Werküberblick, der jetzt im ganzen Haus zu sehen ist.
Michael Sailstorfer, der 1979 in Bayern geboren wurde und heute in Berlin lebt, gehört zu den herausragenden Künstlern seiner Generation. Er arbeitet primär plastisch. So baut er aus einem Polizeiauto ein Schlagzeug oder verwandelt Uniformen in einen Teppich. Oder er verändert elektrische Geräte, so dass sie zweckentfremdet lärmend in den Ausstellungen funktionieren. Seine Sache ist ein sorgfältiges gedankliches Registrieren unserer Zivilisation, aus der er einzelne, oft wenig beachtete Momente herausgreift und frei von ihrem Sinn neu sieht. Seine Arbeiten besitzen immer eine gewisse Zweischneidigkeit, sind humorvoll, öffnen bisweilen Abgründe und meinen immer noch ein Anderes, das ganz direkt mit unserer Existenz zu tun hat.
So übersichtlich nun die Ausstellung in Recklinghausen wirkt: Sie schlägt doch sehr unterschiedliche Töne an. Sie ist laut und leise, geradezu penetrant und dann wieder introvertiert, bedarf der Erklärung und steht für sich. Da ist der Ventilator an der Decke, vor dem ein Mikrofon befestigt ist. Das Rotieren wird über Boxen in den Raum übertragen. Aber es ist Luft, die den Lärm verursacht. „Hoher Besuch“ heißt diese Arbeit von 2009, die den Wind von draußen in das Gebäude holt und damit etwa die Hohlheit theatralischer Gesten anspricht. Michael Sailstorfer bleibt in seiner Kunst auf bestimmte Situationen bezogen, und doch lassen sich seine Arbeiten metaphorisch verstehen.
Immer wieder wendet er sich der Natur zu. Einzelne Arbeiten ereignen sich in der Landschaft, mitunter im Wald und direkt an Bäumen. So hat er einen Waldplatz gereinigt und die umgebenden Bäume bis auf eine Höhe von 2,5 m geschrubbt. Oder er hat ein riesiges, schwarzes Quadrat in den Wald gemalt und diese Anspielung auf das berühmte Gemälde von Malewitsch dann dem allmählichen Verfall preisgegeben. Mit einer Kamera wurde dies live übertragen in die Berlinische Galerie, wo zeitgleich eine Ausstellung stattfand.
Daran schließt in der Kunsthalle Recklinghausen nun die zwölfteilige Fotoserie „Antiherbst“ an. Jedes Foto zeigt den gleichen Blick auf einen Baum in der Landschaft, sichtlich im Herbst, nur in unterschiedlichem Tageslicht. Das Groteske aber ist: Der Baum steht in der vollen Pracht seiner Laubblätter ... – was es damit auf sich hat, erfährt man dann draußen, beim Besuch der „Emscherkunst“-Ausstellung. Ein ähnlicher Geist der Anarchie kennzeichnet die „Raketenbäume“ (2008) im oberen Stockwerk, zu sehen in fünf kurzen Videos, bei denen ein Baum auf einer Wiese mit lautem Knall mehrere Meter senkrecht in die Luft fliegt, ehe er, geradezu unbeholfen, wieder auf die Erde zurückfällt. Auch die „Wolke“ (2010), die Michael Sailstorfer aus grau-schwarzen LKW-Schläuchen geknotet und über den Köpfen aufgehängt hat, handelt mit dem „Draußen“. Freilich ist dieser Blick auf den Himmel ernüchternd, die Wolke, die noch an ein Tierwesen denken lässt, trägt schon die Umweltverschmutzung in sich: als Rekonstruktion einer Idylle, die doch das wenig Idyllische unserer Zivilisation zeigt. Kommentiert wird das Ganze im gleichen Stockwerk von präparierten Katzen, die hoch auf Sockeln den Mond in Form von grellen Strahlern anheulen – und natürlich heißt diese Arbeit „Solarkatzen“ (2012). So schön und bitter kann Kunst sein.
„Michael Sailstorfer – Young West“I bis 29.9.I Kunsthalle Recklinghausen I www.kunst-in-recklinghausen.de
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