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Blick in die Ausstellung
Foto: Caroline Schlüter / Kunsthalle Recklinghausen

„Reaktionen auf Architekturen der Unterdrückung“

30. Mai 2023

Museumsdirektor Nico Anklam über Ângela Ferreiras Kunst in Recklinghausen – Sammlung 06/23

Die Kunsthalle Recklinghausen zeigt als Ausstellung der Ruhrfestspiele Werke der in Mosambik geborenen, in Südafrika aufgewachsenen und in Lissabon lebenden Künstlerin Ângela Ferreira. Ein Gespräch über Unterdrückung, globale Kunst und Avantgarde.

trailer: Herr Anklam, Ângela Ferreira hat in Portugal das Rentenalter erreicht. Ist das nicht ein bisschen spät für die erste Einzelausstellung in Deutschland?

Nico Anklam: Absolut! Nicht wegen des Rentenalters, sondern weil Ângela Ferreira eine der wichtigsten Stimmen in der zeitgenössischen Kunst ist und so viele auf der ganzen Welt schon gesehen haben wie vielschichtig, interessant und relevant ihre Kunst ist. Die Kunsthalle Recklinghausen ist nun das erste deutsche Museum, das eine Einzelausstellung ausrichtet. In Anbetracht dessen, dass sie 2007 schon Portugal auf der Venedig Biennale vertreten hat, ist das überraschend und umso toller für uns.

Nico Anklam
Foto: Kunsthalle Recklinghausen / James Larsen 2022
Zur Person: Nico Anklam wurde 1981 in Düsseldorf geboren. Der promovierte Kunsthistoriker (Doktorarbeit an der Uni Greifswald über die Malerei des 19. Jahrhunderts in Nordeuropa) und Ausstellungsmacher kuratierte an der Kunsthal 44 Møen in Dänemark über mehrere Jahre multilaterale Projekte. Er lehrte an der Kunstakademie der Arktischen Universität Tromsø in Norwegen und der Estnischen Akademie der Künste Tallinn. Seit 1. Juni 2021 ist er Direktor der städtischen Museen der Stadt Recklinghausen.

In ihrer Kunst geht es oft um Kolonialismus. Die Arbeit zu den Minenarbeitern wirft einen kritischen Blick auf das Spannungsverhältnis zwischen arm und reich. Aber Arte Povera ist ihre Kunst ja nicht gerade, oder?

Tatsächlich doch ein bisschen, wenn man Arte Povera so verstehen will, dass Objekte, die auf den ersten Blick gar nicht nach Kunst aussehen, ganz große Kunst sein können. Eine Arbeit aus den frühen 1990er Jahren die wir hier ausstellen (Sites and Services, 1992), zeigt Elemente von Behausungsstrukturen, die das rassistische Apartheitsregime in Südafrika bestimmten Bewohnern angeboten hat, sie aber eigentlich Teil eines größeren Kontrollsystems waren. Die amüsante Anekdote dazu ist, dass Ângela mir sagte, als sie die Fotos dieser Behausung erstmals einem amerikanischen Kunstexperten gezeigt hat, dachte der an Minimal Art in der Wüste. Dabei sind ihre Arbeiten Reaktionen auf diese Architekturen der Unterdrückung. Insofern gewinnt Ângela Ferreiras Kunst auch auf den zweiten Blick.

Eine der wichtigsten Stimmen der zeitgenössischen Kunst“

Zu sehen sind also drei Jahrzehnte ihrer Arbeit voller Hommagen und Zitate?

Hommagen und Zitate ja, aber auch sehr viel Eigenes. Ângela Ferreiras Kunst geht weit über das ja jetzt gut ein Jahrhundert zurückliegende Duchampsche Urinoir hinaus. Das ist nicht nur eine Kontextverschiebung, nicht nur etwas in einem neuen Kontext, gerade umgekehrt schafft Ângela Ferreira im eigentlichen Raum nun Gegenstände, die in der Geschichte nur auf dem Papier existierten, wie beispielsweise Entwürfe der Konstruktivisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die nie gebaut wurden.

Wie Wladimir Jewgrafowitsch Tatlins Turm auf dem Dach?

Prägnanter in diesem Zusammenhang ist vielleicht der von Gustavs Klucis 1922 entworfene Lautsprecher-Kiosk mit Propagandatafeln, der bei uns nun im Raum existiert. Von Klucis gab es ihn nur auf dem Papier. Tatlins Turm auf dem Vordach, da gibt es weitere Zusammenhänge, die mit Dan Flavin zu tun haben. Aber absolut – bei uns sind auf einmal historische Werke der Kunstgeschichte zu sehen, die oft nur als Entwürfe existierten, bei uns werden sie zu realen Objekten.

Zu jedem Werk eine Erklärung“

Kann man das alternative Geschichtsforschung nennen?

Eine wunderbare neue kunsthistorische Kategorie, die Sie gerade mit dieser Frage geschaffen haben. Ich nehme die für Ângela Ferreira absolut an.

Arbeiten zwischen Popkultur und den Avantgarden des 20. Jahrhunderts: Wie kommuniziert das Museum diese Spannbreite für ihre Besucher?

Wir versuchen jede Kunst, die wir in der Kunsthalle Recklinghausen zeigen, auf verschiedenen Wegen zum Publikum zu bringen. Wir haben bei jedem Werk einen QR-Code an der Wand, so dass man sich einen Text durchlesen kann. Wer kein mobiles Gerät dabei hat, wir verleihen welche und zur Not drucken wir auch was aus. Es gibt also zu jedem Werk eine Erklärung und wir versuchen altersgerecht für jedes Publikum etwas anzubieten.

Zentraler Teil einer globalen Kunstgeschichte“

Ich verstehe das auch als Laboratorium afrikanischer Emanzipation in der neokolonialen Gegenwart. Warum gibt es keine Ausstellung über Afrofuturismus?

Ich würde hier für Konturschärfung der Begriffe plädieren. Der Afrofuturismus ist eine ganz wichtige Strömung, die auch zum Glück vermehrt in Ausstellungen Sichtbarkeit erlangt. Der Afrofuturismus ist aber als popkulturelle und kunstgeschichtliche Bewegung ein anderer Zweig von Kunstproduktion, die sich mit dem afrikanischen Kontinent und der Diaspora beschäftigt. Insofern sind das alles Teile des gleichen großen Mosaiks künstlerischer Praxen des afrikanischen Kontinents und der Diaspora und diese müssen nicht als Nische sondern als zentraler Teil einer globalen Kunstgeschichte verstanden werden.

Wie passt denn da das diesjährige Motto der Ruhrfestspiele „Rage und Respekt“ hinein [rage (eng.) bedeutet Wut, d. Red.]?

Denken Sie allein an die Wahrheits- und Versöhnungskommission, die Truth and Reconciliation Commission in Südafrika nach Ende der Apartheit. Da sind die Fragen von Rage und Respekt für eine Künstlerin, die in Mosambik im südlichen Afrika geboren ist, die in Kapstadt groß wurde und jetzt in Europa lebt und arbeitet und die Fragen, welche Stimmen werden wann wie gehört oder wie geht man mit dieser problematischen Geschichte um – ich denke kein anderes Motto könnte hier besser passen.

Ângela Ferreira | bis 6. August | Kunsthalle Recklinghausen | 02361 50 19 35

Interview: Peter Ortmann

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