Kunst kommt nicht nur von Können – es gehört auch Mut dazu. Zum Beispiel den Mut, ein lange Zeit als nie und nimmer inszenierbares Stück in seiner vollen Länge auf die Bühne zu bringen. Zwar nicht als durchinszeniertes Stück, sondern als Lesung, aber mit 12 Stunden Spielzeit – mit auf 13 Mitstreitern verteilten Rollen und ohne eine einzige Probe. In der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober rief Arne Nobel, Ausnaheme-Theatermacher und Gründer des Rottstr5-Theaters die B-Bande-Tafelrunde ins Zeitmaul-Theater, um gemeinsam Tankred Dorsts monumentales Artus-Stück „Merlin oder Das wüste Land" zu lesen.
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Es beginnt ruhig und langsam – wir haben ja schließlich Zeit: Die Vorleser, überwiegend Schauspieler, sitzen in den Publikumsreihen und erzählen den Beginn der Geschichte von Merlin (Arne Nobel), dem Teufelssohn und Menschenfreund. Peter Bond, ehemaliger Glücksrad-Moderator, leiht dem Satan die Stimme. Als sich das ganze Team schließlich an der Tafelrunde versammelt hat, laufen im Hintergrund Fotos aus Bochum über die Leinwand, hübsche Schnappschüsse von Kulturjournalismus-Veteran Dirk Krogull, bloß: Was hat das mit Merlin, Artus und den Rittern der Tafelrunde zutun? Nun, Zeit zum Nachdenken haben wir ja allemal und vielleicht hat der Ritter-Epos ja mehr mit unserem Hier und Jetzt zutun, als wir ahnen.
Die Gretchenfrage jeder Utopie
Wovon handelt Dorsts „Merlin" denn eigentlich? Zunächst einmal ist es eine brillant erzählte Zusammenfassung eines der wirkungsmächtigsten Geschichtenkanons unserer Kulturgeschichte – was man tatsächlich am besten in der vollen Spielzeit genießen kann, wo nichts ausgelassen und den Figuren genug Raum für eine glaubhafte Entwicklung geboten wird. Es ist auch eine Geschichte über Freundschaft, Liebe und Eifersucht – ohne die Affäre von Artus' Frau Ginevra mit Frauenheld Sir Lancelot wäre es wohl kaum zum Scheitern der Tafelrunde gekommen, dieser idealen Gemeinschaft Edler und Gleichgesinnter. Denn: „Ohne Frauen kein Krieg", wie Nobel zu sehr, sehr später Stunde in einem Hybrid aus Regie-Anweisung und Ausraster feststellte.
Wobei: Stimmt das denn? Ist Liebe hier nicht nur ein Beispiel für zutiefst menschliche Schwäche, an der jede Utopie scheitern wird – von Platons Staat über Artus' Tafelrunde bis heute? Denn im Kern geht es doch um einen Teufelssohn, der das Gute im Menschen sehen will, bis es nicht mehr funkioniert. Und um einen idealistischen Knappen, der ein Schwert aus dem Stein zieht und ein König wird, der an eben diesen Idealen scheitert. Die These vom Scheitern jeglicher Utopien ist zeitlos. Ob man, so wie Nobel, direkte Bezüge zum Brexit sehen will, sei jedem selbst überlassen. Doch manche aktuellen Bezüge drängen sich förmlich auf: „Der Geist muss doch über das Chaos herrschen", insistiert der gealterte König Artus (Thomas Anzenhofer), fast am Ende. Merlin stellt die Gegenfrage: „Der Geist einiger Privilegierter?" Es ist die Gretchenfrage jeder politischen Utopie, die, nur anders formuliert, auch ein Aldous Huxley stellte und in der globalisierten Jetzt-Zeit aktueller ist als je zuvor: Chaos bringt Unheil. Aber ein Herrscher (oder eine Institution) die das Chaos bändigt, zerstört die Freiheit.
Ein Whiskey zu später Stunde
Schade, dass nur eine Handvoll Zuschauer das Wagnis einer 12-stündigen Lesung eingegangen sind. Obgleich das Konzept vorsah, dass ein jeder kommen und gehen konnte wie er wollte – was auch gut funktioniert, da die Eckpfeiler der Artus-Geschichte den meisten vertraut sein dürften und man schnell wieder ins Geschehen hineinfindet. Zudem gab es in den Pausen Essen und zu später Stunde auch Whiskey. Der konnte nach fast 12 Stunden (letztlich ging es dann doch schneller) zwar nicht alle Nerven beruhigen, aber darum geht es auch nicht. Sondern darum, dass hier ein mutiges Format wiederbelebt wurde (es gab ja einst die 24-Stunden-Lesung der Nibelungen zu Nobels Zeiten in der Rottstraße), dass sehr viel besser funktioniert, als man vielleicht vermuten würde: Auch ohne Probe gab es großarige Momente zwischen den Schauspielern (besonders zwischen Marc Zabinski als Lancelot und Britta Weilbacher als Königin Ginevra), eine Spontaneität, die die Marathon-Lesung in dieser Form einzigartig und nicht wiederholbar machen. Allein schon, weil man diese illustre Gruppe an Gästen wohl nur schwerlich wieder an einem Abend zusammen bringen wird, als da wären: Karin Moog, Maria Wolf, Thomas Anzenhofer, Peter Bond, Arne Nobel, Ron Kochanski, Dustin Semmelrogge, Marc Zabinski, Patrick Joswig, Peter Podewitz, Britta Weilbacher, Dirk Krogull, Heike Paplewski, Felix Lampert und Witek Danielczok. Bleibt zu hoffen, dass dieses Format, trotz der überschaubaren Resonanz, weiterleben wird.
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