Jedes Bild für sich. Und zugleich dialogisch, sich ergänzend, Erzählungen fortsetzend. In der Ausstellungshalle der Neuen Galerie, auf dem lichten grauen Beton, behauptet jedes dieser großen Gemälde von Simone Lucas seinen Platz. Der Faden spinnt sich von Bild zu Bild weiter, die Motive kehren wieder: die Tiere im Interieur; die Kinder, die in sich versunken sind; die Klassenzimmer mit der Kreide an der Tafel, überhaupt der Look der Vergangenheitsform, der an Vorstellungen erinnert, die als Fotografien halb verblichen sind oder gerade noch im Kopf herumgeistern.
Und dann entdeckt man, was alles in diesen Bildräumen passiert, die sich wie Bühnen nach innen stülpen und in denen die Luft still zu stehen scheint. In den Bildern von Simone Lucas ereignen sich Szenen, die seltsam und selbstverständlich zugleich sind, vorgetragen in einem lapidaren Realismus, der expressive Momente und impressionistische Auflösungen zulässt, etwa wenn die Wände für den Außenraum durchlässig werden und der Boden sich in grauen Nebel auflöst oder in schwarz-weißer Täfelung in die Raumtiefe führt. Zudem sind auf dem Boden weiße Labyrinthe und Kreise gezeichnet, die sozusagen Maß für die Figuren sind – in der Mehrzahl Jugendliche in der Kleidung früherer Jahrzehnte –, die wie auf einer labilen Fläche verteilt sind. Das physikalische Gesetz der Schwerkraft steht auf der Kippe.
Aus einer anderen, vergangenen Welt
Simone Lucas gehört zu den wichtigsten Künstlern, die aus der Malklasse von Dieter Krieg an der Kunstakademie Düsseldorf hervorgegangen sind. Dabei hat sie sich eine einzelgängerische Position bewahrt, die vielleicht nur mit Andrea Lehmann vergleichbar ist, die bereits in Gladbeck ausgestellt hat. Gemeinsam ist beiden Künstlerinnen, dass ihre malerischen Schilderungen wie aus einer anderen, vergangenen Welt stammen und, mitunter unterstützt durch surreale Elemente, Zustände zwischen Wirklichkeit und Imagination – im Traum, aus der Erinnerung, im Unterbewusstsein, als Märchen, überhaupt als Archetypus – schildern.
Bei Simone Lucas sind die Geschehnisse oft in einen blau-grünen Ton gehüllt, etwa wenn Kinder in einem Schlafsaal liegen und sich das Muster des Bettbezugs als Ornament über den ganzen Raum legt. Die Bilder zeigen ein Ordnen der Erfahrungen zwischen Begreifen und nicht Begreifen-Können. Dazu trägt bei, dass sich Lucas in ihren Darstellungen wiederholt den Naturwissenschaften zuwendet. Unterstrichen durch Bildtitel wie „Kosmologhia“, „Weltall“ oder „Großer Weltentwurf“ kartographiert sie sozusagen das Universum und die Planeten. Ein Motiv dieser Bilder ist das Lernen, sich Wissen Aneignen und damit im Grunde Erwachsenwerden.
Im Lesesaal der Neuen Galerie hat Simone Lucas Darwins Stammbaum-Modell skizziert und darüber kleinformatige Gemälde gehängt, welche Tiere oder Tierwesen, teils mit Menschen zeigen. Aber die Fantasie wird durch Darwin geerdet. Im Gemälde „Die Schläfer“ wiederum drückt eine Rückenfigur im Vordergrund – die Künstlerin selbst – mit ihrer Hand gegen ein Blatt Papier, das sonst nach vorne kippen könnte. Die Fiktion bleibt da, wo sie hingehört: in der Fläche des gemalten Bildes.
Simone Lucas – Nachtland | bis 23.7. | Neue Galerie Gladbeck | 02043 319 83 71
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Erste Berührungen
Die Malerei von Vivian Greven in der Neuen Galerie Gladbeck – kunst & gut 03/23
Erinnerungen, die sich formen
Melike Kara in der Neuen Galerie Gladbeck – kunst & gut 12/22
Die Ironie der sichtbaren Dinge
Justine Otto in der Neuen Galerie Gladbeck
Malerei und Plastik vereint
Justine Otto in der Galerie Gladbeck
Menschen in Räumen
Tim Eitel in der Neuen Galerie Gladbeck – Kunst in NRW 04/21
Die Räume der Bilder
Candida Höfer in der Neuen Galerie Gladbeck – kunst & gut 10/20
Malerei aus Skulptur
Thomas Scheibitz in der Neuen Galerie Gladbeck – kunst & gut 03/20
Für die Malerei
Sven Kroner in Gladbeck – Ruhrkunst 01/20
Gegenwart und Geschichte
Jüngste Bilder von Helena Parada Kim in der Neuen Galerie Gladbeck – kunst & gut 03/19
Zustand des Träumens
Leiko Ikemura in Gladbeck – Ruhrkunst 12/18
Oberfläche mit Falten
Eckart Hahn in der Neuen Galerie Gladbeck – kunst & gut 05/18
Genial einfach
Rose Wylie in Gladbeck – Ruhrkunst 06/17
Intensive Blicke
Fotografin Annelise Kretschmer im MKK Dortmund – Ruhrkunst 03/24
Kultige Cover
Designagentur Hipgnosis in Oberhausen – Ruhrkunst 03/24
Keine Illusionen
Wolf D. Harhammer im Museum Folkwang in Essen – kunst & gut 03/24
„KI erlaubt uns einen Einblick in ein kollektives Unbewusstes“
Kuratorin Inke Arns über Niklas Goldbachs „The Paradise Machine“ im Dortmunder HMKV – Sammlung 03/24
Unter unseren Füßen
Archäologie der Moderne im Ruhr Museum – Ruhrkunst 02/24
Auf und mit der Oberfläche
Wilhelm Wessel im Emil Schumacher Museum in Hagen – kunst & gut 02/24
Diplomatie kreativ
Ingo Günther im Kunstverein Ruhr in Essen – Ruhrkunst 02/24
„Wir sind stolz darauf, diese Werke im Bestand zu haben“
Kuratorin Nadine Engel über die Ausstellung zu Willi Baumeister im Essener Museum Folkwang – Sammlung 02/24
„Die Berührung impliziert eine Verbindung zum Objekt“
Generaldirektor Felix Krämer kuratiert „Tony Cragg: Please Touch!“ im Kunstpalast Düsseldorf – Sammlung 02/24
Ausdruck der Zeit
Expressionismus-Sammlung im Märkischen Museum Witten – Ruhrkunst 01/24
Visionen von Gemeinschaft
„Wir ist Zukunft“ im Essener Museum Folkwang – Ruhrkunst 01/24
Kunstvolle Stahlarbeiten
„work comes out of work“ in Bochum – Kunstwandel 01/24
Räume beleben
„Our house is a very very very fine house“ im Kunstmuseum Bochum – kunst & gut 01/24