Das Refektorium vor der Bochumer Jahrhunderthalle: Ein würdiger Ort für den Austausch schmutziger Geschichten – das ahnt man schon, wenn man sich auf den weichen, braunen Lederkissen von Joup van Lieshouts Darm-Bar-Kunstwerk auf dem Vorplatz mal schön lauschig aneinander kuschelt oder durch dessen Analöffnung hindurch ein hübsches Pärchen-Selfie schießt. Also durch die Skulpturöffnung natürlich.
Auch drinnen im Refektorium geht es heiß zur Sache bei der von jugendlichen „Teentalitaristen“ angeleiteten Podiumsdiskussion zum Thema „Sex“ am Abschlusstag der Ruhrtriennale 2016. Zentrale Fragen der Debatte: Warum sind Frauen so schwer zu befriedigen? Kann ein wohlgeformter Penis mangelnde Verliebtheit ausgleichen? Kann man sich als heterosexuelle Frau eigentlich in eine Frau verlieben, wenn man nur lange genug mit dem schwulen Bruder auf Regenbogenparties geht? Das muss man dringend wissen und umso eifriger diskutieren daher unter anderem: Sebastian Bark von „She She Pop“, Schauspielerin Jele Brückner, Johan Simons, das Publikum und, nicht zu vergessen, die Helden der Veranstaltung: zehn erfrischend neugierige und mit Mikrofonen bewaffnete Jugendliche von „Mit ohne Alles“, dem „Nachwuchsproduktionsbüro“ der Ruhrtriennale.
Wer sich angesichts dieser illustren Runde nun fiesdreckige Geschichten aus dem Künstlermilieu erhofft, wird nur halb befriedigt. Eröffnet wird die Veranstaltung durch einen von allen Gästen und Anwesenden gemeinsam abzuleistenden Schwur: Keine, der an jenem Abend ausgeplauderten Geschichten und Geheimnisse dürfe das Refektorium verlassen, im Namen der Ruhrtriennale. Bei einem so heiligen Schwur muss man Stillschweigen bewahren. Es folgen nun also die sorgfältig entpersonalisierten Bekenntnisse von Interviewgästen, Teenagern und Besuchern der Veranstaltung.
Gemessen am hart rebellischen Auftreten der Teentalitaristen bei der Triennaleneröffnung ist der Einstieg in die Debatte dann aber eher schüchtern. Befragte Nr.1 überlegt mit hübschroten Wangen minutenlang, um ihre sechs oder sieben oder vielleicht auch acht Sexualpartner zu zählen und zu überlegen, mit wem der Sex am besten war. Klar, der, in den man am meisten verliebt war, weil „wenn man verliebt ist, ist Sex eine Mischung aus Verzauberung und Enthemmung, die über etwas rein Funktionales hinausgeht.“ Spaß mache an Sex die Vorfreude und die Geschichten drumherum. Sex ist Fantasie, da sind sich später alle einig.
Weitere bedeutsame Fragen: Kann man zu viele Sexpartner haben? Wie ist Sex, wenn man nicht dieselbe Sprache spricht? Wer ist untenrum gerade so gekleidet, dass er heute Sex haben könnte (erstaunlich viele Meldungen)? Geht Sex abends, auch wenn man Einschlafstörungen hat? Wichtige Kontroversen, bei deren Klärung das Publikum tüchtig mithilft.
Am Ende sind wertvolle Erkenntnisse gewonnen: Schwitzen, Riechen und Enge sind wichtig, Bequemlichkeit aber auch. Sprungfedern im Rücken sind abtörnend, genau wie harte Wände in Pornos. Orgien sind manchmal okay, aber meistens zu anstrengend. Mit Drogen macht's auch Spaß und von Sex auf LSD kann man vielleicht verrückt werden, für immer. In den Niederlanden kann man toll Sex im Wasser haben, „eine Frau muss ihr Bestes tun, um zu kommen, ein Mann muss sein Bestes tun, nicht zu kommen“ und, dem heiligen Herrn sei Dank, Dr. Sommer hat jetzt sogar einen YouTube-Kanal. Da kann man dann auch reinschauen, wenn man den Refektoriumstalk verpasst hat und sich anderweitig weiterbilden möchte. Ist allerdings dann nicht mehr ganz so intim.
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