Mehr Musiker als Bildender Künstler? Ostwall Museumsdirektorin Regina Selter und Rudolf Frieling, Kurator am San Francisco Museum of Modern Art, zur Nam June Paik-Ausstellung I Expose the Music im Dortmunder U.
trailer: Wir alle kennen die Krux mit der Erhaltung von Paiks technischem Werk – die Besucher dürfen doch nicht ran an einen Schallplatten-Schaschlik, oder?
Regina Selter (RS): Das stimmt. Es gibt viele Momente, wo wir das bedauern, weil wir wissen, was Paik damit wollte. Die Aktion mit dem Publikum, das selbstbestimmte Handeln – aus restauratorischen Gründen ist das nicht möglich. Aber wir überlegen, wie wir alternative Formen entwickeln können, um diesen Gedanken zu übernehmen. Wir haben in der Ausstellung mehrere Handlungsanweisungen die wir als Kopie hinterlegen und bieten den Besucherinnen und Besuchern an, damit zu interagieren. Beim „Schallplatten-Schaschlik“ gibt es den längerfristigen Wunsch einer Rekonstruktion.
Beschreiben Sie doch mal die Ausstellungsarchitektur: Ist die konfus wie zu Paiks Lebzeiten?
Rudolf Frieling (RF): Paiks Werke sind natürlich oft eher konfus gegliedert, obwohl es da auch große Ausnahmen gibt. Die Wahrnehmung, dass er immer die wilde Collage gemacht hat, ist auf bestimmte Werke bezogen sicher richtig, insofern haben wir zumindest versucht, eine klare Strukturierung in die Sequenzen der Räume zu bringen. Wobei man eben sagen muss, es gibt zwei Pole: Das eine ist die große Arbeit die „Sixtinische Kapelle“, die wir unbedingt hier zeigen wollten, auf der anderen Seite gibt es das große Konzept einer Partitur, die nie realisiert wurde, die „Sinfonie for 20 Rooms“. Die zeigt für mich eine Blaupause von Paiks gesamtem Werk, heute würde man sagen wie eine Art Algorithmus, der dann in Teilen ausgeführt wurde. Aber da ist auch das Chaos vieler parallel stattfindender Ereignisse in verschiedenen Räumen und die Idee der Partizipation des Publikums durch Live-Elemente. Und als Ergänzung zum „Schallplatten-Schaschlik“: Es gibt in diesem Raum zwei weitere historische Arbeiten, wobei das eine als Ausstellungskopie existiert – das wird quasi jedes Mal pro Ausstellung neu hergestellt – das andere ist vom Leihgeber nach wie vor als originale Skulptur, interaktiv mit Mikrofon vorhanden. Paik hat seine Apparaturen als Konzept immer wieder neu geschaffen, mit neuen technologischen Infrastrukturen, um sie als Museumskopie auszuführen, damit das Publikum die Erlebnisse persönlich machen kann.
Was ist denn bei der Recherche der Beziehung zwischen Dieter Roth und Paik rausgekommen?
RS: Ein Indiz für diese Freundschaft ist das ganz frühe Videowerk, Study No. 2, eine Lesung von Roth, die sehr mit Schnee versetzt ist und quasi unleserlich wird, man hört ihn aber als Figur, er taucht nur in Schemen ab und zu auf. Paik nennt das, „my best video“. Vielleicht auch wegen Roth. Hierfür trafen sie sich sogar in New York im April 1966. Der künstlerische Dialog wurde dann 1977 mit „My Jubilee Unverhemmet“ von Paik und mit der Gegenantwort von Roth „THY Quatsch est min Castello“ fortgeführt. Da kann man tatsächlich noch weiterforschen und recherchieren.
Paik war immer Avantgarde zu seiner Zeit. Heute ist er ein „Kunstmarkt-Akteur“ im Museum. Hätte ihm das gefallen oder hat er das angesteuert?
RF: Ins Museum zu kommen? Absolut. Sicher. Er hat auch versucht, kommerziell erfolgreich zu sein. Er hat in den 1960er Jahren extrem damit gekämpft, dass seine Arbeiten immer nur gekostet und gekostet, aber nichts eingebracht haben. Er hat das dank großzügiger Gönner und Sponsoren durchgehalten. Aber der kommerzielle Erfolg kam sehr spät. Wenn er mal was verkauft hat, hat er das sofort in seine weiteren Experimente gesteckt. Er war insofern ein Leben lang am finanziellen Ruin. Und Paik hat auch so seine Schablone, dass er Avantgarde immer abgelehnt hat. Er ist ja auch deswegen ins Fernsehen mit den großen Satellitensendungen gegangen und hat mit der Crème de la Crème der Popkunst zusammengearbeitet. Auch wenn man die zum Teil einer Independent-Szene zuordnen kann, aber Lou Reed und David Bowie blieben in dem Sinne sicher nicht Avantgarde, sondern sind Mainstream geworden.
Und der Besucher hat, wenn ich Paik zitiere, die „Freiheit der Wahrnehmung“, d.h. er kann sich frei bewegen oder muss er durch diese Gänge?
RF: Wenn man die „Sinfonie for 20 Rooms“ als Blaupause nimmt und das auf einen Ausstellungsraum überträgt, dann müsste alles parallel sein, dann müsste der Besucher sich so bewegen können, ohne dass sich irgendeine Linearität ergibt. Das ist architektonisch hier nicht zu machen. Insofern sind wir in diesem Paradox gefangen, dass wir durch die Linearität des Ausstellungsgangs gleichzeitig noch eine Art von Chronologie drüberlegen, aber in den Räumen wird es immer sehr komplex.
RS: Das ist auch hilfreich für Menschen, die noch nicht so vertraut sind mit dem Werk von Nam June Paik, seinen Arbeitsweisen und seiner Philosophie. Da kann es unterstützend sein, einen Rundgang zu haben, um zu begreifen, wie er gedacht, wie er gearbeitet hat und sich dann weiter in die verschiedenen Kollaborationen zu bewegen, bis man zu der Sixtinischen Kapelle kommt.
Nam June Paik I Expose the Music | bis 27.8. | Museum Ostwall im U Dortmund | 0231 502 47 23
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