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Hüpfen als Überforderung ist nicht mehr möglich
Foto: Jacob Studnar

Klaustrophobie ist ein mächtiges Bild

26. März 2020

„Parade 24/7“ im Schlosstheater Moers – Auftritt 04/20

Sechs Menschen hüpfen mit dem Rücken zum Publikum. „Hallo Deutschland, hallo Welt. Hier ist das Ruhrgebiet. Hier ist Duisburg. Hier ist die Loveparade 2010.“ Der WDR-Moderator aus dem Off wird überschwänglich. Das Wetter war schön damals zur Kulturhauptstadt-Zeit. Die sechs im Anzug hüpfen, im Hintergrund eine schwarze Wand. „Ne Million werden erwartet“, ruft der Moderator ins Mikro. „Ob‘s am Ende dann vielleicht zum Rekord reicht, und wir uns unsterblich machen, das werden wir später noch erfahren. Also: Party on!“ Zwischen das lauter werdende Stakkato des Stampfens mischt sich Polizeifunk. 14:33 Uhr, Thomas 2-20 an Jupiter 2: Wir öffnen für 5.000.

Das Drama um die Loveparade, bei der am warmen 24. Juli 21 Menschen sterben und Hunderte verletzt werden, beginnt. Regisseur Ulrich Greb und sein Ensemble wollen im Schlosstheater Moers zehn Jahre nach dem Unglück, für das bis heute niemand Schuld eingestehen will, daran erinnern und vehement auf die in diesem Jahr drohende Verjährung hinweisen. Eine Katastrophe mit so vielen Toten, wo jeder alles richtig gemacht haben will, hat nicht nur das Prinzip des absurden Theaters überwunden, sondern sich in eine neue Dimension der kollektiven staatlichen Verantwortungslosigkeit erhoben, rechtstaatliche Prinzipien ausgehebelt und zeigt den Hinterbliebenen die boshafteste lange Nase, zu der Menschen überhaupt fähig sind.

Greb inszeniert das Grauen eines Nachmittags vorsätzlich unaufgeregt mit geballter Faust, dazu nutzt er als dramatischen Text einzig Originalzitate. Nur so werden die Ungeheuerlichkeiten in den Köpfen der Zuschauer zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme, der sich niemand entziehen kann. Wie sich das angefühlt haben muss, da auf dem Gelände, wird klar, wenn sich immer weiter schwarze Kugeln aus der hinteren Wand quetschen – das Hüpfen wird zur Tortur. Immer mehr Kugeln treiben die sechs längst Schwitzenden in ihren edlen schwarzen Anzügen auseinander, ab und an fliegt eine Jacke. Die ursprüngliche Choreografie des Performance-Blocks ist zwanghaft aufgehoben. Selbst der Polizei-Funkverkehr an diesem Endpunkt des grassierenden Ruhrgebietswahns (niemand außer Stan Libuda und Horst Schimanski wird hier je wieder unsterblich) hatte damals seine Präzision verloren. Metropolen sehen eben anders aus. „Die Metropole Ruhr lebt und bebt“, sagte damals der Veranstalter, den – natürlich – auch keine Schuld trifft und der immer noch etwas weiter im Revier herumfuhrwerkt. Die schwarzen Kugeln füllen jetzt den Raum. Die Situation eskaliert wie der Überlebenskampf bei der Loveparade. Hüpfen als Überforderung ist nicht mehr möglich. Stille.

Die Aufarbeitung beginnt und damit das schwärzeste Kapitel einer Stadt. Verantwortungen werden weggeschoben, jeder zeigt mit seinem blutigen Finger auf den nächsten. Klar wird, dass es viele professionelle Warner gegeben hat, die aber in der Euphorie, auch mal in die Schlagzeilen zu kommen, überhört wurden. Nur in den Schlagzeilen war man. In der Verantwortung nie. Die sechs großartigen Performer (Patrick Dollas, Lena Entezami, Matthias Heße, Roman Mucha, Elisa Reining und Frank Wickermann), frisch eingekleidet, brüllen gemeinsam: Das war nicht unsere Zuständigkeit. Ein Abend in Moers, der einem die Tränen in die Augen treibt und die geballte Faust in der Hosentasche zittern lässt.

„Parade 24/7“ | R: Ulrich Greb | keine Termine bis mind. 19.4. | Schlosstheater Moers | 02841 883 41 10

PETER ORTMANN

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