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„Kasimir und Karoline“
Foto: Birgit Hupfeld

Niemand entkommt dem Traum vom Zeppelin

27. Oktober 2016

Gordon Kämmerer inszeniert Ödön von Horvaths „Kasimir und Karoline“ als Postpop-Comic – Theater Ruhr 11/16

Sie sind unter uns. Die Außerirdischen von Planeten Postpop. Sie leben ein Postulat der Dekadenz, sie verlustieren sich mit gigantischen Weißwürstchen, sie tragen schrille Kleider, schrille Frisuren, sprechen mit schriller Stimme und – sie sind keine Bayern. Dennoch spielt die penetrant farbenfrohe Inszenierung von Ödön von Horvaths „Kasimir und Karoline“ auf dem Oktoberfest. Das ist eine pervertierte aufgeblasene Szenerie, die sich sicher mit der Realität decken mag, die aber von Anfang an Gefahr läuft, das Stück zu übertünchen. Es scheint die Rückkehr des Spaßtheaters ins Ruhrgebiet, doch dafür fehlt es an elementarem Regie-Tiefgang, trotz Live Techno (Max Thommes) und Kostümorgie (großer Job: Josa Marx).

Gordon Kämmerer hat das Volksstück, das 1932 uraufgeführt wurde, im Dortmunder Megastore inszeniert. Für sein Volksstück „in unserer Zeit“ braucht es Platz, für von Horvaths Zeitpunkt eigentlich nicht. Das ist die fehlende Schnittmenge die den Abend spaltet, denn die Liebe höret zwar nimmer auf, die Regieeinfälle offensichtlich doch, es geht zu wie bei Nestroys „Häuptling Abendwind“ unterm Tisch, und die Horvathsche Sozialkritik endet bereits da, wo alle scheinbar ihren Spaß haben, selbst wenn die Luft raus ist, das Liebespaar zu schwer füreinander, das Karussell und die Autoscooter drehen sich weiter, doch wer wollte sich von diesen Theaterfuzzis überhaupt noch die Welt erklären lassen, wenn selbst der Achternbusch‘sche Bierkampf mit Gerstensaft aus dem Gartenschlauch bewältigt werden muss. Selbst wenn über allem der Zeppelin hängt.

Schon der Anfang steckt im falschen Stück, im falschen Raum, im falschen Körper. Julia Schubert als Modepunk-Karoline steht im Anatomischen Institut und will schon mal ihre Leiche verkaufen, weil sie Geld braucht. Glaube, Liebe und Hoffnung bräuchte sie zwar auch, doch das wäre dann eher ein anderes Stück vom Österreicher Horvath gewesen und mit Elisabeth eine ganz andere Rolle. Doch als einen kleinen Totentanz kann man die Kämmerers Inszenierung auch sehen, wenn er auch schwer mit dem riesigen Raum zu kämpfen hat. Die Choreografie seiner Protagonisten wird nur deshalb ansehnlich, weil sich wirklich alle die Seele aus dem Leib spielen. Die Wichte Merkl Franz (Christoph Jöde) und seine Erna (Bettina Lieder), die es als Kleinkriminelle versuchen, die notgeilen Geldsäcke Kommerzienrat Rauch (Carlos Lobo) und Landgerichtsdirektor Speer (auch Max Thommes), selbst der schleimige Schürzinger (Frank Genser) gibt alles für diese losgelassene Karoline.

Die ist die eigentlich tragische Figur des Stücks. Sie will nicht mehr als ein Eis und vielleicht etwas Achterbahn mit ihrem gerade arbeitslos gewordenen Kasimir fahren, doch wie das so ist, wenn die Sprache versagt, das Schwäbische und Sächsische nicht mehr hilft, dann gibt es Komplikationen, dann wird das Weib zur Wiesnbraut, die nur noch auf dem Rummel leben kann und sonst nirgendwo. Als Kasimir (Ekkehard Freye – ich dachte erst seine Krücken wären ein Regieeinfall) versagt, beginnt der Ritt auf dem Medusa-Floß, dem niemand mehr entrinnen kann und das die Regie vielleicht etwas zu groß gebaut hat, denn die Großkopferten können da noch mit ihren Minisportwagen herumdüsen. Leicht ist das Publikum mit Slapstick-Einlagen immer noch zu beeindrucken, selbst der Missbrauch roter Fahnen wird da zum Selbstläufer, aber die Frisuren und das Bühnenbild nutzen als Effekt dagegen schnell ab. Und dann taucht da auch noch das Fanfaren-Corps 1974 aus Wickede auf, es tschinderassabummt der Jahrmarkt und Ekkehard Freye kokettiert mit zwei der Trompeterinnen. Zu Original Hinterlader Seelentröstern werden sie zwar nicht, doch Julia Schubert ist ein großartiges Sicherungsnetz für die Inszenierung. Missbraucht, misshandelt, vom Zeppelin am Himmel verraten, am Ende aller Träume also, will sie zurück zu Kasimir, kehrt zurück mit gebrochenen Flügeln, doch das Leben ist längst weitergegangen. Merkl Franz seine Erna hat sich dem arbeitslosen Chauffeur bemächtigt und lässt ihn nicht mehr los. Verzweifelt wirft Karoline sich ihm an den Hals, immer und immer wieder. Doch letzter Ausweg bleibt nur der schleimige Schürzinger. Der Postpop hat da längst ausgespielt: „Solange wir uns nicht aufhängen, werden wir nicht verhungern“, sagt Erna. Das gilt nicht für alle Teile der Welt.

„Kasimir und Karoline“ | R: Gordon Kämmerer | 3., 11., 18.11., 26.12. je 19.30 Uhr | Megastore Dortmund | 0231 50 27 2 22

PETER ORTMANN

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