Eine Garderobe braucht er nicht. Seinen Rucksack nimmt Bachtyar Ali durch die dichten Stuhlreihen im vollen Literaturhaus mit auf die Bühne. Von Köln ist er angereist. Seit den den 90er-Jahren lebt der Schriftsteller in Deutschland. Zuvor geriet er in Konflikt mit dem Regime von Saddam Hussein, das damals Tausende verfolgte und ermordete.
Diese Flucht, aber auch das Weiterziehen und die Reisen mit vielen Begegnungen finden sich in vielen seiner Werke. Dass dies auch sein eigenes künstlerisches Handwerk ausmacht, diese Weisheit verpackt Ali an diesem Abend in einen schönen, schnörkellosen Satz: „Einen Roman zu schreiben, ist nicht, wie mit dem Flugzeug von einem Ort zum anderen zu reisen, sondern eher wie mit einem Boot entlang des Flusses.“
Dabei beginnt „Die Stadt der weißen Musiker“, der bisher zweite Roman von Bachtyar Ali, der ins Deutsche übersetzt wurde, am Flughafen in Amsterdam. Hier soll es für den Protagonisten, den Schriftsteller Ali Sharafiar, zurück nach Kurdistan gehen. Dort wartet Papierkram wegen seiner Scheidung auf ihn. Doch dann wird er von einem unbekannten Weißgekleideten angesprochen, der ihm eine Tüte mit Notenheften überreicht. Er bittet Sharafiar darum, die Tasche einer befreundeten Musikerin in Kurdistan zu übergeben. Ein seltsamer Auftritt, wohl einer jener, so glaubt Sharafiar, „unglückseligen Kurden, die durch endloses Herumreisen mit keinerlei Aussicht auf Asyl vor lauter Heimweh den Verstand verloren haben.“ Doch aus dieser Begegnung ergibt sich schließlich eine wundersame Odyssee.
Wundersam war auch die Entdeckung von Bachtyar Alis Romanen im deutschsprachigen Raum. Denn die Übersetzung wurde durch begeisterte Leser geleistet. Kurden, die im deutschen Raum lebten und zwei von Alis Romanen übersetzten.
Ein Glücksfall. Nach knapp zwanzig Jahren, in denen dieser begnadete Erzähler in Deutschland lebte, unentdeckt von Literaturbetrieb und Feuilleton, wurden nun zwei Romane vom Zürcher Unionsverlag auf Deutsch herausgegeben. So wie „Der letzte Granatapfel“, den Ali bereits im Jahr 2002 verfasste. Der erste kurdisch-irakische Roman, der überhaupt auf Deutsch erschien.
Der Roman beginnt mit der Freilassung des einstigen Peschmerga-Kämpfers Muzaferi Subhdam. Nun will er seinen Sohn Saryasi wiederfinden. Zwanzig Jahre war Muzaferi in Einzelhaft, immer mit dem Bemühen, bloß nicht die Sprache zu vergessen.
Die Muttersprache von Bachtar Ali ist Sorani, der südliche der beiden kurdischen Dialekte. Dass er seine Romane auf kurdisch schrieb, war nicht nur eine Pionierleistung, sondern ein politischer Akt seiner Schriftstellregeneration. „Das war nicht einfach, denn die kurdische Sprache war lange verboten“, erzählt der Autor über die Hintergründe seiner Romane. „Ich musste da auch die Sprache neu erfinden. Kein Autor der Welt hat das zuvor gemacht.“
Kurdische Literatur gab es vorher auch, aber sie war oft ideologisch motiviert. „Sie wollten immer wissen, was ich von dieser oder jener Partei halte“, so Ali. „Das ärgert mich sehr.“ Der Stil seiner Romane wird dagegen oft dem sogenannten Magischen Realismus zugerechnet. Surreal, fast märchenhaft sind die Erzählwelten von Bachtyar Ali. „Schönheit ist wichtiger als Wahrheit. Nur sie kann die Geschichte eines Landes retten“, sagt er. Aber avant la lettre ist sein Werk auch ein politisches, ein humanistisches Projekt in einer Region, die seit Jahren von Krieg, Flucht und Elend zerrüttet ist. „Wir haben die Realität verloren“, so Ali. „Als Autor versuche ich, diese durch Fiktion wiederzufinden.“ Nicht nur Realität ist es, die da gerettet wird, sondern Menschlichkeit. Dass Bachtyar Ali diesen Sonntag im Dortmunder Rathaus den nach der Literaturnobelpreisträgerin benannten Preis, mit den schon so bedeutende AutorInnen wie Alfred Andersch oder Elias Canetti, Christa Wolf oder Magaret Atwood geehrt wurden, entgegen nahm, ist da nur folgerichtig.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Blutige Füße für schnelle Mode
Jan Stremmels Reportage „Drecksarbeit“ in Dortmund – Literatur 10/23
Kaleidoskop der Identitäten
Slata Roschal in Dortmund – Lesung 07/23
Kerle und ihre Kippen
Autor Domenico Müllensiefen in Dortmund – Literatur 06/23
Postmigrantische Erfahrungen
Lena Gorelik liest in Dortmund – Lesung 03/23
Europäer und Ausgesetzter
Marica Bodrožić‘ „Die Arbeit der Vögel“ in Dortmund – Literatur 02/23
Der Horror der Arbeitswelt
Philipp Böhm liest in Dortmund – Literatur 10/22
Das digitale Prekariat
Autorin Berit Glanz in Dortmund – Literatur 07/22
Der Wellensittich und die Arbeiter
Martin Becker in Dortmund – Literatur 06/22
Zoologie des Literaturbetriebs
Gertraud Klemm im Literaturhaus Dortmund – Literatur 05/22
Highways und Antidepressiva
Lesung mit Olivia Kuderewski in Dortmund – Literatur 10/21
Afrika abseits der Klischees
Gunther Geltinger im Literaturhaus Dortmund – Literatur 11/20
Mit deftigen Innereien für die Authentizität
Tadeusz Dąbrowski mit „Eine Liebe in New York“ am 31.10. im Literaturhaus, Dortmund – Literatur 11/19
Alternative Realität in Tokyo
„Tokyo Sympathy Tower“ von Rie Qudan – Literatur 07/25
Zart und kraftvoll zugleich
„Perlen“ von Siân Hughes – Textwelten 07/25
Flucht ins Metaverse
„Glühfarbe“ von Thea Mantwill – Literatur 06/25
Ein Hund als Erzähler
„Zorro – Anas allerbester Freund“ von Els Pelgrom und Sanne te Loo – Vorlesung 06/25
Im Reich der unsichtbaren Freunde
„Solche Freunde“ von Dieter Böge – Vorlesung 06/25
Bis zur Neige
„Der Durst“ von Thomas Dahl – Literatur 06/25
Ein Leben, das um Bücher kreist
„Roberto und Ich“ von Anna Katharina Fröhlich – Textwelten 06/25
Hartmut und Franz
Oliver Uschmann und sein Roman über das Verschwinden von Kafka – Literaturporträt 06/25
Die Spielarten der Lüge
„Die ganze Wahrheit über das Lügen“ von Johannes Vogt & Felicitas Horstschäfer – Vorlesung 05/25
Im Fleischwolf des Kapitalismus
„Tiny House“ von Mario Wurmitzer – Literatur 05/25
Starkregen im Dorf der Tiere
„Der Tag, an dem der Sturm alles wegfegte“ von Sophie Moronval – Vorlesung 05/25
„Charaktere mit echten Biografien“
Oliver Uschmann über seinen Roman „Ausgefranzt“ – Literatur 05/25
Ein Meister des Taktgefühls
Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“ – Textwelten 05/25