Was bleibt ist ein müdes Wahrnehmen der Nachrichten: Von Umweltkatastrophen, Terroranschlägen und Kriegsschauplätzen. So schauen wir die Tagesthemen. Irgendwo zwischen Feierabend und Schlafengehen. Ein abstumpfendes Ritual am Abend. Denn am nächsten Morgen geht es weiter. Vergessen und verdrängt ist das Grauen.
Anke Glasmacher hat sich danach jedoch ans Schreiben gemacht. Das war 2014, ein Jahr, das mit Krisen an der Krim oder im Gaza-Streifen fast schon vergessen scheint. Es war genauso das Jahr, in der sich der Erste Weltkrieg zum hundertsten Mal jährte, was die Kölner Autorin zum Anlass nahm, wie einst Georg Trakl mit seinen expressionistisch-apokalyptischen Versen, den Schreckensmeldungen, die täglich um diese Welt gehen, lyrische Notizen abzuringen.
Entstanden ist daraus das Buch „zwanzig/vierzehn. ein nachrichtenjahr“, aus dem Glasmacher, neben ihrem letzten Buch „Obstkistenpunkt“, an diesem Abend im Dortmunder Literaturhaus las. Dass sich der mediale Lärm, der uns tagaus, tagein betäubt, literarisch verwursten lässt, das ist ja seit Rainald Goetz bekannt.
Statt um TV-Trash ging es allerdings um blutigen Ernst: „Man dokumentiert nur das Grauen“, so Glasmacher. „Irgendwann hatte ich den Eindruck, ein Kriegstagebuch zu schreiben“. Terroristen, die in der Ukraine Bombenanschläge durchführen oder IS-Truppen, die Bevölkerungsgruppen massakrieren, all das schildert Glasmacher in Versen, in denen das HD-Blut und die Bilderflut in die heimischen vier Wände spritzt.
Aber Glasmachers Projekt, jeden Tag ein Gedicht über die Hauptschlagzeilen der Tagesthemen zu verfassen, hatte auch experimentellen Charakter. Mit einer besorgniserregenden Erkenntnis, wie sie in Dortmund erzählt: „Ich hatte das Gefühl, dass sich die Nachrichten verändert haben und weniger neutral berichten.“ Dahinter vermutet sie auch eine politische Zäsur: „Vielleicht hat sich in diesem Jahr die Weltordnung verändert.“
Ob Lyrik dem etwas entgegensetzen kann, gar im Aufwind ist? Lütfiye Güzel, die im letzten Jahr für ihre Gedichte und Kurgeschichten den Literaturpreis Ruhr erhielt, kann das nicht beantworten. Das will die Duisburgerin auch nicht. „Ich glaube, mir ist das echt egal.“ Direkt und unkonventionell, das trifft auf ihre Verse, aber auch ihren Umgang zu. Etwa mit Verlagen, die sie umgeht, seitdem sie ihre Texte selbst herausgibt. Wer ihre Werke erwerben will, wende sich am bestem an die selbst: „Ich mache das so unabhängig wie möglich und verkaufe auch die Bücher selbst.“
Unkonventionell ist sie an diesem Abend auch gegenüber den Journalisten, denen sie gleich mal eine Gegenfrage stellt: „Haben Sie sich denn heute Abend einen Satz gemerkt?“ Denn bei den Streifzügen, die ihr lyrisches Ich durch eine triste Welt führt, um diese Beobachtungen wie ein düsterer Herr Keuner in schnörkellose Sentenzen zu verpacken, muss man sicher gehen, dass diese auch in der Besprechung auftauchen. Sätze wie: „In der Zweiten Klasse fahren Menschen, in der Ersten fahren Sitze.“ Oder die weise Erkenntnis, die ihr lyrisches Ich ausspricht, als es beruhigt feststellt, dass ein im Park liegender Mensch wohl nur schläft und beruhigt weiterläuft: „Komisch, dass man weitergeht, wenn einer atmet und stehen bleibt, wenn einer tot ist.“ Damit hat Lyrik im Gegensatz zu Nachrichtenmeldungen schon etwas erreicht: Sie bleibt im Gedächtnis.
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