Das ist schon recht frech: Die riesigen schwarz-weißen Fotografien von Männerbeinen stehen wie Marmorsäulen am Eingang zum Wechselausstellungsbereich im Museum Folkwang. Sie leiten die Retrospektive des Schweizer Fotografen Baltasar Burkhard (1944-2010) ein. Ein gewichtiger Teil seines Werkes handelt von der Landschaft (im Überblick aus der Ferne) und vom Körper (als Ausschnitt aus der Nähe), wobei sich die Sujets im minutiösen Erfassen und im Monumentalen der Abzüge gegenseitig unterstützen. Die Ausstellung in Essen nun ist ein Paradebeispiel für die sukzessive Befreiung der Fotografie von der rein dienenden, dokumentarischen Funktion der frühen 1960er Jahre hin zu ihrer Emanzipation als Kunstforum.
Wichtige Anregungen sind für Burkhard der Pilotenberuf des Vaters und die Bekanntschaft mit dem Ausstellungskurator Harald Szeemann. Burkhard sieht die Welt von oben und er lernt über Szeemann, der in seiner Heimatstadt Bern die Kunsthalle leitete, die internationale Kunstszene kennen. An der Kunsthalle bekommt er einen Job. Fachlich ausgebildet ab 1963 im Studio von Kurt Blum, dokumentiert er 1969 Szeemanns heute legendäre Ausstellung „When Attitudes Become Form“ und 1972 die documenta in Kassel. Zu den Künstlern, die er früh in der vitalen Berner Szene trifft, gehört Markus Raetz, mit dem er sich befreundet und zusammenarbeitet, etwa 1969 bei den Aufnahmen karger Landschaften. Eines dieser Fotos von braunem Ackerboden wird, vergrößert und mit einer diagonalen grün schimmernde Neonröhre davor, als Gemeinschaftsarbeit mit Raetz, Szeemann und Jean-Fréderic Schneyder in „When Attitudes Become Form“ ausgestellt. Die Fotografien selbst werden 1972 in der renommierten Zeitschrift „Camera“ abgebildet – damit hat sich Burkhard endgültig als eigenständiger Künstler mit Fotografie etabliert. Experimenteller aber sind die Fotoarbeiten, die er ebenfalls mit Markus Raetz 1969/70 beim Aufenthalt in Amsterdam angefertigt hat: Burkhard printed die Fotografien karger Situationen – etwa ein Bett – auf eine Leinwand, die er als Laken locker bis auf den Boden fallen lässt.
Die Essener Ausstellung rekapituliert akribisch Burkhards Werdegang mit seinen Haupt- und Nebenwegen wie der angewandten Tätigkeit für Architekturbüros und seinen sachlich porträtierenden Aufnahmen von Zootieren. Und sie schildert, wie er erfolglos versucht, als Schauspieler in den USA Fuß zu fassen und sich stattdessen 1975-78 mit einem Lehrauftrag für Fotografie an der University of Illinois in Chicago aufhält, wo er den Kontakt zu Thomas Kovachevich, den er auf der documenta 1972 kennengelernt hat, vertieft. Die drei zerstörten Abzüge mit Rollerskatern, die Burkhard dort aufgenommen hat, sind dazu neu angefertigt worden. Sie weisen schon auf sein großes Thema nach seiner Rückkehr nach Bern: Er fotografiert nunmehr den Körper in Ausschnitten, etwa den Arm, das Bein, das Ohr, aber auch den abgewandt liegenden Frauenakt. In riesiger Vergrößerung mit gesteigerter skulpturaler Präsenz sind sie Bestandteil von Burkhards eigenen Ausstellungen. Rekonstruiert ist in Essen auch die gemeinsame Ausstellung im Musée Rath in Genf mit Niele Toroni, dessen hochformatige weiße Bahnen mit Pinselabdrücken mit Burkhards gleich großen Fotografien mit im Dunkel gehaltenen Torsi von Rückenansichten korrespondieren.
Und doch, Burkhards wohl spannendste Bilder sind die Landschaftsschilderungen, die ihn vor allem ab den späten 1990er Jahren zum Überblick aus der Luft führen und eine andere Form von Land Art sind. Sie betonen (Verkehrs-) Schneisen auf riesigen urbanen Arealen und erfassen die Weite der Wüste. Burkhard hat außerdem Wolken und die brandende See mit ihren hohen Wellen fotografiert. Diese hochdramatischen Aufnahmen sind als Hommage an Gustave Courbets „Le Vague“ (1870) an der Normandie entstanden, dort wo auch Courbet das Meer gemalt hat. Allein schon wegen dieser Gegenüberstellung von Fotografie und Malerei lohnt sich die Ausstellung.
Balthasar Burkhard | bis 14.1. | Museum Folkwang Essen | 0201 884 54 44
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