Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
22 23 24 25 26 27 28
29 30 1 2 3 4 5

12.558 Beiträge zu
3.787 Filmen im Forum

© Ewerdt Hilgemann, Amsterdam, courtesy Flottmann-Hallen, Herne

Kräfte der Natur

28. Februar 2013

Plastiken von Ewerdt Hilgemann in den Flottmann-Hallen in Herne – Ruhrkunst 03/13

Manchmal reicht es schon, ernsthafte Anstalten zur Änderung eines Sachverhaltes treffen, um zu erkennen: Alles ist doch gut, so wie es ist. Nachdem Ewerdt Hilgemann die beiden Gruppen mit je vier Plastiken in den Flottmann-Hallen aufgebaut hatte, überlegte er, die vierteilige „Cactus flower“ vom Estrich mit seinen Gebrauchsspuren zu trennen. Als er dann einen quadratischen schwarzen Teppichboden angeliefert hatte, war ihm jedoch klar: Die vier verformten Edelstahlkörper brauchen die Unmittelbarkeit, um mit dem Betrachter zu kommunizieren, von diesem umgangen und näher betrachtet zu werden.

Ewerdt Hilgemann ist Bildhauer, der seine Edelstahlplastiken vom Zufall formen lässt, indem er aus geschweißten Kuben mittels einer Absaugpumpe die Luft herauszieht: Die Metallhülle verändert sich, schnürt an einzelnen Stellen ein, kippt partiell zusammen, sackt vielleicht zur Seite und hält sich in der Balance. Aber er steuere das alles nicht, sagt Hilgemann. Er greife nicht ein, er suche nicht nach einem besonderen Zustand, sondern er akzeptiere die Form, die entsteht.

Ein Heimspiel
Für Ewerdt Hilgemann, der alsEntréeseiner Ausstellung eine Stele direkt vorm Eingang der Flottmann-Hallen errichtet hat, ist die Schau in Herne ein Heimspiel, auch wenn er schon seit drei Jahrzehnten in Amsterdam ansässig ist. Hilgemann wurde 1937 in Witten geboren; er hat an der Werkkunstschule in Saarbrücken studiert – bei Oskar Holweck, dem ZERO-Künstler, und bei dem Maler Boris Kleint – ist dann aber ins Ruhrgebiet zurückgekehrt, wo er zeitweilig in der Künstlersiedlung im Halfmannshof gearbeitet hat und an den Aktivitäten der Gruppe B1 beteiligt war. Selbst hat er 1969 im Atelier des unvergessenen Rolf Glasmeier in Gelsenkirchen und 1972 im Emschertal-Museum in Herne ausgestellt und war schon in diesen Jahren im Kunstbetrieb etabliert, also lange vor den „Imploded Cubs“, die seit 1984 entstehen.

Aber wie kommt man auf so eine Idee? Bei Hilgemann folgt eines konsequent aufs andere. Da war 1982 – nachdem er sich zuvor mit Relief- und Kubus-Strukturen in Holz und Stein beschäftigt hatte – die Aktion in Carrara, als er einen in wochenlanger Arbeit geschaffenen, 150 cm großen Würfel aus poliertem Marmor einen Abhang hinunterrollen ließ … Was für die puristischen Steinbildhauer natürlich ein Frevel sein musste, ist für Hilgemann konsequent: Hier dokumentiert sich seine Auseinandersetzung mit der prozesshaften Veränderung von Material, welches – wie dann später der Edelstahl – Vollendung signalisiert, und all das findet in der Natur statt. Natürlich habe hier noch der Gedanke des Subversiven mitgespielt, der Verstoß gegen tradierte Regeln, sagt Hilgemann. Damit aber ist der künftige Umgang mit dem Material angelegt. Weitere Maßnahmen folgen. Hilgemann lässt Metallkuben von einer Fabrik fallen oder er presst sie oder lässt sie explodieren. Er habe alles gemacht, nichts unversucht gelassen, den Metallkubus zu verändern, bis er auf die Idee gekommen sei, ihn mittels Luftentzugs von innen zu verformen: ihn implodieren zu lassen. Die ersten Arbeiten bestehen aus rostendem Stahl, aber zur wahren Schönheit und Inhaltlichkeit gelangt Hilgemann mit dem Edelstahl, der bis heute seine Arbeit bestimmt.

Zweimal Vier
Wie reich und vielschichtig dieses Konzept ist, das zeigen jetzt die beiden Vierergruppen in den Flottmann-Hallen. „Cube Flower“ und „Cactus Flower“ stammen aus der jüngsten Zeit, ja, den vierten Teil von „Cube Flower“ hat Hilgemann erst bei der Eröffnung in den Flottmann-Hallen entstehen lassen, so dass das Publikum beobachten konnte, wie der Körper allmählich seine Form fand. Jede der zwei Gruppen beruht auf einem gedachten, dann auseinandergeschobenen Kubus, im Falle des „Cube Flower“ einem Würfel. Die jeweils vier gleichen Körper verhalten sich unter der Luftentnahme ähnlich, aber nicht gleich. Bei „Cactus Flower“ entstehen vier Pyramiden, die sich wie die Blätter eines Nachtschattengewächses zu öffnen scheinen, und die Teile der „Cube Flower“ knicken nach außen hin ein und nehmen umso mehr den Kontakt zum Außenraum auf. Vielleicht lässt sich die Formung der Teile sogar mit menschlichen Eigenschaften beschreiben? Wichtiger aber ist doch, die Oberflächen im Detail anzuschauen, wie dies Hilgemann schon 1995 im Katalog seiner Ausstellung im Museum für Konkrete Kunst Ingolstadt mit Detailaufnahmen vorgeschlagen hat. Die Umgebung spiegelt sich matt im Stahl, der perfekt wirkt. Die Stauchungen wirken samten, weich, gar nicht so verletzt, und aus der Nähe wird jedes Gefühl für die Dimensionen relativ: Ist der Grat denn nicht riesig und zumal im reflektierenden Licht wie aus weiter Ferne gesehen? All das lässt an Landschaftserfahrungen denken, wird zum Gleichnis für unberührte Natur. Ewerdt Hilgemann berichtet von seinen Aufenthalten im Death Valley, von den Sandverwehungen in der Wüste, und dann noch so ein beiläufiger Satz: „Der Fluss ist ein Bildhauerkollege“. Für ZERO sei er zu jung gewesen, für die berühmte Künstlerbewegung, die sich um 1960 im Rheinland formierte und mit den Materialien der Technik für die Wirkung von Licht und Bewegung interessierte und sich schließlich der Weite unbewohnter Gegenden widmete. Aber auch bei den „Imploded Cubs“ von Ewerdt Hilgemann läuft alles auf grenzenlose Schönheit hinaus, und dass seine Arbeiten tatsächlich einige hundert Kilogramm schwer sind, man möchte es nicht glauben, sondern: einfach nur staunen.

„Ewerdt Hilgemann – Der Luftschmied“ I bis 10.3. I Flottmann-Hallen Herne I www.flottmann-hallen.de

THOMAS HIRSCH

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Arthur der Große

Lesen Sie dazu auch:

Verwandt in Sprache und Gefühl
Dota und Mascha Juno brillieren in Herne – Musik 02/24

Vom erfolgreichen Scheitern
„Trial & Error“ in den Herner Flottmann-Hallen

Was die Zukunft bringt
Kabarett mit Jacqueline Feldmann in den Herner Flottmann-Hallen

Drinnen und doch draußen
„VariO – Varieté Nouveau 2019“ in Herne – Bühne 12/19

Von der Straße in die Luft
Urban-Art-Hip-Hop-Festival-Kultur in Herne – Bühne 11/19

Befreiung von einer Burka
„funny girl“ in Herne – Theater Ruhr 06/18

Tegtmeiers Erben gesucht
Im Kulturzentrum Herne findet das Wettkampf-Finale statt – Komikzentrum 11/17

Feiner Humor und rauchiger Bass
Barbara Ruscher und „die feisten“ begeistern – Komikzentrum 01/17

Mit System
Rudolf Knubel in Ahlen und Herne – Ruhrkunst 01/17

Young at Art
Die 4. Europäische Jugendkunstausstellung eröffnete in Herne und Essen – Kunst 02/16

Lyrik als Projektil
Samuel Kramer überzeugt beim Herner WortReiz-Slam am 17.9.

Industrial auf Knopfdruck
Christof Schläger in den Herner Flottmannhallen – RuhrKunst 12/14

RuhrKunst.

Hier erscheint die Aufforderung!