Der „First Universal Cybernetic-Kinetic Ultra-Micro Programmer“ (FUCKUP) kräht, wirft die Münze digital und erstellt das „I Ging des Tages“ – ob es einer hören will oder nicht. So beginnt der Morgen in der Moerser Theaterkapelle: Draußen die verwitterten, geheimnisvollen Grabsteine, drinnen der Wohnraum der zwielichtigen Familie, die zwischen Unrat und Laptop den ewig verborgenen Verschwörungen in der Welt huldigt und damit ihren Lebensunterhalt sichert. Wehe wenn da was hochgeladen wird, was unglaubwürdig ist, und die weltweiten User ihren Aluminiumhut absetzen. Sehr frei nach Motiven und mit Textauszügen (Chapeau!) der Kult-Trilogie „Illuminatus!“ von Robert Shea und Robert Anton Wilson hat Regisseur Matthias Heße ein Stück gebaut, das mit „Trash“ nicht annähernd konnotiert ist – wenn auch Protagonistin Brute das einmal so behaupten muss. Es ist mehr so ein geistiger Trip (700 µg) durch unbekannte Testamente von Aleister Crowley, angereichert mit etwas Leviathan-Mythologie aus Babylon und den letzten Worten Howards, dem sprechenden Tümmler aus Atlantis – kurzum ein monster-grandioser Abend.
Bei der Suche nach dem Auge in der Pyramide lässt der kiffende Alt-Hippie Neuss (Hans Wolfgang Otto) die hochbegabte Celine Hagbard und den IT-Profi Georg Dorn auf die Internetgemeinde los, während Brute, die Werwolf-Tierrechtsaktivistin und Tochter von Neuss vieles zu hintertreiben scheint. Mittendrin immer FUCKUP, das allwissende Orakel ohne Hang zur Weltherrschaft. Heße inszeniert das gemeinsam mit seiner grandiosen wilden Horde (Elisa Reining, Lena Entezami, Patrick Dollas und Roman Mucha) als Parforcejagd durch die Verschwörungstheorien der Jahrhunderte, wobei die hetzenden Hunde eher durch Likes, Eugen Drewermann und eine Princess of Power (echt Old School!) ersetzt wurden. Den Usern im Internetshop „Illuminatics“ werden zum beiderseitigen Lebensunterhalt pseudomystischer Müll und immer neue Theorien angedreht, die im Wohnzimmer der Kapelle kreiert und vom eigenen Video hochgeladen werden. Das wahnsinnige Bombardement der kruden Ideen hat (und braucht) nicht einmal einen Höhepunkt, wenn man mal von der wiedergefundenen Erinnerung an das „Anarchist Cookbook“ (1969) absieht. Don‘t be alarmed.
„Illuminatics. Ein Mindfuck-Workout in 23 Stufen“ | R: Matthias Heße | 3.5, 16.5., 2.6. je 19.30 Uhr | Schlosstheater Moers | 02841 883 41 10
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