Oh Boy
Deutschland 2012, Laufzeit: 88 Min., FSK 12
Regie: Jan Ole Gerster
Darsteller: Tom Schilling, Marc Hosemann, Friederike Kempter, Justus von Dohnányi, Michael Gwisdek, Katharina Schüttler, Arnd Klawitter, Martin Brambach, Andreas Schröders
>> www.ohboy.x-verleih.de
Bizarres Großstadtdrama
Mosaik in Schwarzweiß
„Oh Boy“ von Jan Ole Gerster
Glaubt man so manchem Kritikerkollegen, tut sich der deutsche Film heutzutage schwer, wenn er nicht gar bereits am Ende ist. Deutsche Komödien sind albern, deutsche Dramen sind hölzern, überhaupt: Alles wirkt verkrampft und unbeholfen inszeniert mit zu viel Kopf, zu wenig Bauch und ohne Fluss. Und alles ist sowieso viel zu viel Fernsehen und überhaupt gar nichts mehr ist Kino. Und das gute Drehbuch ist eine Marktlücke. Doch damit nicht genug: Wird ein französischer Vorzeige-Regisseur wie François Ozon auf der diesjährigen Cologne Conference nach deutschen Vorbildern gefragt, dann besinnt er sich auf Rainer Werner Fassbinder. Nur ist der seit 30 Jahren tot. Entgegen diesem Trend schaffen es nun gleich zweimal hintereinander deutsch(sprachig)e Produktionen zur choice of choices. Im Oktober war es „Die Wand“, das fantastische, existenzielle österreichische Drama über eine Frau, die in abgeschiedener Idylle zum Alleinsein verdammt wird. In diesem Monat ist es „Oh Boy“, der unsere besondere Empfehlung verdient. Auch hier wandelt der Protagonist verloren durchs Land, nur sind es diesmal nicht das Gebirge und seine Fauna, die befremden, sondern Berlin, die vertraute Großstadt und seine Menschen.
Parcours durch Neurosen
Tom Schilling („Robert Zimmermann wundert sich über die Liebe“, „Mein Kampf“) spielt Niko, einen jungen Mann Mitte 20, der bereits vor zwei Jahren sein Jurastudium geschmissen hat und seitdem nicht vorwärts kommt. Der Film begleitet ihn für einen Tag und eine Nacht durch die Hauptstadt: Niko spricht beim Verkehrspsychologen vor, er begleitet seinen Kumpel zum Filmset eines Nazihistoriendramas, er begegnet seiner ehemaligen Schulkameradin Julika (Friederike Kempter), seinem labilen Nachbarn (Justus von Dohnányi), seinem großspurigen Vater (Ulrich Noethen), hartnäckigen Bahnkontrolleuren, narzisstischen Tanztheater-Choreografen und einem alten Trinker (Michael Gwisdek) mit Erinnerungen an die Reichspogromnacht. Es ist eine 24-Stunden-Odyssee, während der Niko immer wieder erfolglos versucht, eine Tasse Kaffee zu ergattern. Ein irrwitziger Parcours durch Neurosen, starre Regeln und Abhängigkeiten, durch das sich der Held treiben lässt. Sein Weg wird bestimmt von den Impulsen der Großstadt, die überall lauern und fortwährend im Scheitern enden. Die Menschen mögen verzweifelt sein oder gefestigt, allesamt aber sind sie ohnmächtig, Parodien ihrer selbst. Wer Macht ausübt, ist eitel und zutiefst lächerlich, sei er Verkehrspsychologe, Fahrscheinkontrolleur oder erfolgreicher Geschäftsmann, wie Nikos Vater. Es sind allesamt Männer, die sich durch nichts als ihre Position und/oder Uniform im Recht wägen. Auf der anderen Seite begegnet der Protagonist Menschen am Rande des Nervenzusammenbruchs, tief tragische Figuren. Und mittendrin Niko selbst: zurückhaltend, fragil, entrückt. Ein Beobachter, höflich und intelligent, der den Verlauf der Dinge – wenn überhaupt – nur zögerlich anstößt. Der sich mit dem Zuschauer durchs farblose Wunderland dieses in Schwarzweiß gehaltenen Films staunt. Der einzige Protagonist mit wachem Verstand, der reflektiert und infragestellt, am Ende gar sich selbst.
Regisseur Jan Ole Gerster zeichnet auch für das Drehbuch verantwortlich. Er studierte Regie und Drehbuch an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin, „Oh Boy“ ist sein Spielfilmdebüt. Ein Debüt, mit dem Gerster Akzente setzt. Nicht nur dadurch, dass er seine Geschichte in poetische Schwarzweiß-Bilder taucht. Alles – die Situationen, die Begegnungen, die Dialoge – ist stilisiert. Stilisiert, und trotzdem voller Leichtigkeit, Seele und viel Humor: Das Drama gebiert sich gleichermaßen als Satire auf Künstler wie auf Deutschtum. Eine Satire, die mitunter bis zur Farce reicht und dann wieder auf Tragik prallt, die anregt und berührt. Manchmal meint man, Helge Schneider oder Loriot verlaufen sich im melodramatischen Klischee-Universum Franz Kafkas. Mal schnoddrig mit gut aufgelegter Jazzmusik unterlegt, mal still und verloren treibt es den blasswangigen Helden durch die Episoden eines befremdlichen und zugleich vertrauten Alltags. Der Film braucht eine Weile, bis er sich von der reinen Farce löst, zur ernsthaften Parabel erwächst und seine Tiefe offenbart. Dann aber entpuppt sich die Reife dieses Debüts, in erzählerischer ebenso wie in inszenatorischer Hinsicht.
Stillstand im Wahnsinn der Zivilisation
Jan Ole Gerster blickt tief in die deutsche Seele und inszeniert den Stillstand im Wahnsinn der Zivilisation. Die Menschen sind festgefahren im Denken und Handeln und krallen sich entweder fest am Gerüst einer Institution oder sind schlicht aufgeschmissen. Gerster entwirft ein poetisches, philosophisches, entlarvendes Mosaik, erschreckend, bissig und traurig. Alltagsepisoden in Wogen, immer wieder ausgebremst durch wundervolle magische Momente. Rhythmisch wohlkomponiert und großartig besetzt bis in die vielen Nebenrollen. François Ozon mag diesen Regisseur noch nicht kennen, doch ihm dürften die Vorbilder von Jan Ole Gerster bekannt sein, die bis in die Nouvelle Vague reichen. „Oh Boy“ ist inspiriertes Kino, berührend, gewitzt und unverkrampft.
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