Im Sekundentakt veröffentlichen und kommentieren Menschen in den sozialen Medien alte Fotos und Erinnerungen, erzählen Geschichten, tauschen sich in Podcasts und Youtube-Talkshows über Genres, Regisseure und vergessene Filmperlen aus. Zu Recht bemängeln Kritikerinnen und Kritiker, dass es dabei primär um Emotionen statt um Fakten geht. Genau hier liegt das Problem: Wer wissen möchte, in welchem Kino ein Film wie lange lief oder wie er seinerzeit von der Filmkritik aufgenommen wurde, steht buchstäblich vor verschlossenen Türen.
Die Zeitungskonzerne halten ihre Archive weiterhin zu. Selbst das Hamburger Abendblatt, das sämtliche Zeitungsausgaben seit 1945 digital ins Netz gestellt hatte, wurde nach der Übernahme durch die Funke Mediengruppe wieder abgeschlossen. Weiterhin ist es nicht möglich, abseits der Stadtarchive, die einem immer noch Mikrofilme vorsetzen, flächendeckend in alten Zeitungen zu blättern oder zu recherchieren. Auch der Hauptverband deutscher Filmtheater weiß nach der Einstellung seines 70 Jahre lang existierenden Branchenmagazins Filmecho/Filmwoche nichts mit dem historischen Erbe anzufangen.
Diese bewusste Nicht-Digitalisierung geht nicht nur zu Lasten eines breiteren Geschichtsverständnisses. Sie betrifft auch die Bedeutung der Kinos und „ihrer“ Filme. Wer wissen will, wie Filme in den 1950er oder auch 1980er Jahren von der Presse aufgenommen wurden, muss weiterhin das Lexikon des internationalen Films, also den katholischen Filmdienst, bemühen, der bei Unterhaltungsfilmen mit seinen „Wir raten ab“-Kritiken kaum Erhellendes beizutragen hat. Ein Blick auf die Plattform Letterboxd oder andere Webseiten genügt, um zu sehen: Billige Meinungen gibt es überall – und sie werden dem Großteil der Filme nicht gerecht, weil sie die Entstehungszeit nicht berücksichtigen und an einer Abwägung oder weiteren Hintergründen gar nicht interessiert sind. Selbst teure Sondereditionen auf Blu-ray oder DVD sammeln sich ihre Booklet-Texte aus den immer selben, flachen Quellen zusammen.
Dabei gäbe es so viel zu entdecken. Man könnte genau sehen, in welchen Städten bestimmte Filme gut oder schlecht liefen, welche Kinos sprichwörtlich mit ihnen verbunden waren, wie das Kino und der Film und sein Publikum zusammenhingen. Auch bestimmte Erfolgsphänomene lassen sich anhand alter Spielpläne oder Kinoanzeigen erklären und könnten die Kinogeschichtsschreibung nach vorne bringen – und damit auch den einzigartigen Wert des Kinos als Geschichtsmaschine im doppelten Sinne hochhalten.
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