Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
18 19 20 21 22 23 24
25 26 27 28 29 30 31

12.553 Beiträge zu
3.784 Filmen im Forum

Keine Stunde alt und raucht schon
Foto: Thilo Beu

Express ins Erwachsenenleben

29. Oktober 2015

Noah Haidles neues Stück in Essen uraufgeführt – Theater Ruhr 11/15

Die Utopien einer besseren Welt sind verblasst, die für ein besseres Leben dagegen nicht. Ohne Optimismus geht es im Privaten eben nicht. „Das beste aller möglichen Leben“, wie Noah Haidles neues Stück betitelt ist, sollte es schon sein. Der Akzent liegt auf den Möglichkeiten. Wer allerdings als Setting für dieses beste Leben die Kleinfamilie wählt, muss ein Freund des schwarzen Humors sein. Haidle beschert seinen Protagonisten Naomi und East in ihrem längst schal gewordenen Beziehungsdasein eine unbefleckte Empfängnis: Morgens um fünf finden sie vor der Haustür ein Körbchen mit einem frisch geborenen Baby. Stephanie Schönfelds Naomi schwankt zwischen Emphase, Babysprache und koketter Beziehungsarbeit, der sich Marcus Staab als East im blauen Anzug mit der üblichen Ausrede widersetzt: Falscher Zeitpunkt – nur um dann dem Baby Hip-Hop vorzutanzen. Es ist ein emotionaler Schüttelkurs, den Haidle seinem Paar kurz gönnt, bevor er es durch ein surreales Experiment jagt. Denn das Baby mit Namen Christopher wächst im Zeitraffer und durchlebt ein ganzes Menschenleben in gerade einmal zwei Stunden. Bereits im Körbchen beginnt es zu tanzen und zu sprechen. Eine elektronische Babystimme quäkt aus dem Off der Essener Casa und versucht, die Wahleltern zu manipulieren.

Regisseur Thomas Krupa verortet das Geschehen in einem orangeroten Bühnenkasten, aus dem nur eine kleine Schiebetür herausführt und dessen Decke mit jedem Wachstumsschub ein Stück herunterfährt. Stefan Diekmanns Christopher ist ein altgewordenes Kind: schwarze Kniehosen (Kostüme: Johanna Denzel), lange Haare, Lackschuhe. Altklug führt er einen Gottesbeweis oder schwadroniert über die Liebe. Die Alterslosigkeit, die elektronischen Sounds und die Emotionslosigkeit der Figur rücken die Figur in Sphären der Science Fiction. Bei Haidle ist Christopher dagegen ein nackter Mensch mit Windel, eine persiflierte Ecce-Homo-Figur, die nach den Möglichkeiten von Glück, Sinn und Empathie fragt. Sein Entwicklungsexpress führt ihn durch alle menschlichen Höhen und Niederungen: Er liebt seine Eltern und vergewaltigt sie, spielt Chopin, nimmt Drogen und bekehrt sich zu Gott. Haidles pointensatter Text ist anspielungsreich, sein Sarkasmus trifft die Familie genauso wie idealistische Erziehungsmaximen, die Vergötzung von Kindern, amerikanische Bekehrungsgeschichten und letztlich alle Instant-Sinnangebote. Es sind Naomi und Easts ständige Streits, die so etwas wie Struktur schaffen. Das leere Ritual des Alltags als Sedativ angesichts der Sinnlosigkeit? Krupas Uraufführungs-Inszenierung tunt das Stück formalistisch ins Groteske hoch und nimmt damit brutalen Stellen wie der Vergewaltigung ihre Drastik. Das funktioniert trotzdem erstaunlich gut, auch wenn man sich manches bedrängender vorstellen kann. Wenn Christopher schließlich an Altersschwäche stirbt, fährt die Decke fast vollends herunter: Der Raum der Möglichkeiten ist ausgeschöpft – glücklicher sind wir immer noch nicht.

„Das beste aller möglichen Leben“ | R: Thomas Krupa | Fr 13.11., Sa 14.11. 19 Uhr | Schauspiel Essen | 0201 812 22 00

Hans-Christoph Zimmermann

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Kung Fu Panda 4

Lesen Sie dazu auch:

Sternfahrt zum Shoppen
„Einkaufsstadt, 4300“ von Trio ACE in Essen – Prolog 03/24

Täglich 0,5 Promille
„Rausch“ am Schauspiel Essen – Prolog 09/23

„Bedürfnis nach Wiedergutmachung“
Aisha Abo Mostafa über „Aus dem Nichts“ am Theater Essen – Premiere 02/23

Theater als „Schule der Empathie“
Kara und Zintl leiten zukünftig das Schauspiel Essen – Theater in NRW 05/22

Drei wilde C´s im Schnee
„After Midnight“ im Essener Grillo – Theater Ruhr 02/20

„Diese Songs drücken ähnliche Dinge aus“
Florian Heller und Christian Tombeil über „After Midnight“ – Premiere 12/19

Schnellballsystem der Sozialleistungen
Michael Cooneys „Cash“ am Theater Essen – Theater Ruhr 04/19

Selbstvermarktung, um zu überleben
„≈ [ungefähr gleich]“ am 30.11. in der Casa des Grillo-Theaters, Essen – Theater Ruhr 12/18

Flüchtlinge gegen Ping-Pong-Tisch
„Willkommen“ von Lutz Hübner im Grillo-Theater Essen – Theater 12/17

Geschicktes System
„Pussy Riots“ in der Essener Box – Theater Ruhr 07/17

Wenn der Tod zweimal klingelt
„Sophia, der Tod und ich“ am Schauspiel Essen – Theater Ruhr 04/17

Untote auf Drogen
„Die lebenden Toten“ in Essen – Theater Ruhr 04/17

Theater Ruhr.

Hier erscheint die Aufforderung!