Es gibt ein Leben vor dem Durchbruch! Dass da auch bereits wertvolle Kunst entstehen kann, ist zurzeit am Beispiel des belgischen Dramatikers Jan Fabre (Jahrgang 1958) in der Kunsthalle Recklinghausen zu sehen. Noch bis zum 23. Juni werden weit über hundert kleine Arbeiten, hauptsächlich Aquarelle und Kugelschreiberwerke, des Enfant terribles gezeigt. Viele der Arbeiten stammen aus einer Zeit, in der ihn das Theater noch nicht gerufen und die Kunstwelt noch nicht wahrgenommen hatte.
Drei Etagen Vorgeschichte hat er im ehemaligen Bunker am Bahnhof aufgebaut. Fast alles stammt aus den späten 1970er Jahren: Zeichnungen, Skizzenhaftes, Aquarelle. Sein Statement im Basement („Ich möchte ein heiliger Pillendreher sein“) hat nichts mit medizinischer Chemie, sondern mit Käfern (Scarabaeus sacer) zu tun, denn die krabbelnden Tiere standen im Zentrum von Fabres frühen Schaffen. Sein Vater war Biologe und er selbst erforschte und zeichnete die Tiere in seinem Pfadfinderzelt auf der heimischen Wiese.
Später wurden die Käfer sein Markenzeichen, was ihm unter anderem die Hochachtung des belgischen Throns einbrachte: Ein Lüster mit tropischen Prachtkäfern hängt seit Jahren im Hause des Hochadels – angesichts der tabuisierten belgischen Kolonialgeschichte ein wahrhaft theatralischer Akt. Kein Wunder, Theatermacher Fabre zählt zu den brachialen Erneuerern. Seine Arbeiten mit toten Käfern ziehen den Unmut einiger Naturschützer auf sich, was durchaus verständlich ist. Doch Fabre ist sich natürlich der Kritik bewusst – und pupt drauf. Ausgangspunkt seiner radikalen Werke mit totem Getier waren „Fantasie-Insekten-Skulpturen“ (1976–79). Aus ihnen wurden mit der Zeit riesige Formate aus Tausenden von grün schillernden Smaragdkäfern, übrigens jüngst für eine schlappe viertel Million Euro auf der Art Cologne verkauft.
Das Pfadfinderzelt – von Farbre „Neuslaboratorium“ (Nasenlabor) genannt – ist nun als Kunstwerk in Recklinghausen zu sehen. Die Besucher müssen es öffnen, um das jugendliche Laboratorium zu bestaunen. Geht man eine Treppe hinauf in den ersten Stock, sieht man in Vitrinen die toten Tiere: aus einem Rasierpinsel mutierte faunische Cyborgs, die Gewehrpatronen tragen, sind an Badewannenstopfen gekettet. „Insekten haben keinen Herrn, sie sind immer unterwegs.“ – nicht nur seine Skulturen, auch Statements wie dieses düften Fabres Wiedergeburt als Mensch erschweren. Sollte er doch wiedergeboren werden, so würde er selbst vermutlich als Prachtkäfer zurückkehren wollen, darauf lässt zumindest seine starke Identifizierung mit den kleinen Krabblern schließen.
In Recklinghausen dominieren aber nicht die Käfer-Skulpturen sondern seine Zeichnungen. Mit ihnen wurden die tierischen Mutationen vorgeplant. In der obersten Etage wird das Ganze durch die sechs Quadratmeter große Installation des „Spinnenkooentheater“ (1979) abgerundet. Dieses sollte eigentlich mit echten Vogelspinnen bewohnt werden – nach Protesten hat Fabre sie aber durch leere Hüllen ersetzen lassen. Steht man davor, hört man die Four Tops vom Band singen: „Reach Out I’ll Be There“, Doch helfende Hände brauchen die Spinnen gar nicht, sie haben auf dem Tisch alles, was sie brauchen, sogar Friedhof, Spiegelkabinett und Knast.
Jan Fabre – Insektenzeichnungen & Insektenskulpturen 1975-1979 | bis 23. Juni | Kunsthalle Recklinghausen | 02361 50 19 35
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