Manchmal geht Kunst verschlungene Wege. Manchmal duckt sie sich hinter mächtigen Maschinen, und dennoch, wer den Gelsenkirchener Nordsternpark besucht, wird von ihr umgarnt, eingewickelt und in die Höhe gefördert, wenn es sein muss bis an den Herkules von Gelsenkirchen. Aber das muss nicht sein. Viel interessanter als dieser tonnenschwere Kunstmüll von Markus Lüpertz ist das Videokunstzentrum im Innern des Nordsternturms, der zwar selbst Industriekultur ist, aber neben technischem Ambiente auch technisches Equipment beherbergt für Filme.
„Feminismen“ heißt die aktuelle Schau in Kooperation mit dem Neuen Berliner Kunstverein (NBK), soll heißen: Künstlerinnen zeigen feministische Video-Kunst von den frühen 70ern bis heute. Klar, es sind auch Arbeiten zum Alterungsprozess oder zu möglichen Schönheitsidealen dabei. Natürlich auch zu männlichem Voyeurismus und was dagegen zu tun ist: Beispielsweise „What the Fuck Are You Staring at?!“ von der Rumänin Anetta Mona Chişa oder die einfache Behauptung einer eigenen künstlerischen Identität durch Maria Lassnig (1919-2014). Aber auch Meilensteine der Kunsthistorie. Wie Valie Exports „Hyperbulie“-s/w-Video von 1973, wo sich die Künstlerin nackt durch einen mit Elektrizität aufgeladenen Korridor zwängt. Wiederholt bricht sie dabei unter den Stromschlägen zusammen. Die Österreicherin ist bis heute eine der subversivsten Künstlerinnen, die sich selbst aus dem Dunstkreis des Wiener Aktionismus (Otto Mühl, Hermann Nitsch) befreit hat und ihr eigenes Experimentierfeld geschaffen hat. Das postuliert auch Monika Funke Stern in ihrer s/w-Schönheits-OP-Orgie „Frankensteins Scheidung“ von 1984 oder Pipilotti Rist in „Pickel Porno“ von 1992, etwas verschämt erst ganz hinten hinter der letzten Maschine aus der Steinkohlegewinnung installiert. Sanja Ivekovićs „Instructions No 2“ (2015) ist sogar eine Uraufführung, die Kroatin hat ein Remake ihrer eigenen Arbeit von vor rund 40 Jahren gefilmt, bei dem sie sich schwarze Pfeile auf das Gesicht gemalt hat, heute stellt sie dem Alterungsprozess die neue Aufnahme-Technik entgegen.
Aber genau die ist es, die viel zur Befreiung und Autonomie der Kunst von Frauen beigetragen hat, obwohl sich das immer noch in der männlich dominierten Kunstwelt niedergeschlagen hat. Und das Medium ist zudem nicht einfach zu vermitteln, schon gar nicht in einer Region, die sich eher zur Eventlogik denn zur Theorieversessenheit hingezogen fühlt. Aber diese Arbeit im Nordsternturm ist wichtig und deshalb gibt es seit 2012 auch einen Fahrstuhl, der die Besucher in die Eingangsebene 11 befördert, von wo aus man an der Fördermaschine entlang nach unten wandert. Wer wirklich alles sehen will, muss viel Zeit mitbringen – für das fiktivdokumentarische „Bildnis einer Trinkerin“ (1979) von Ulrike Ottinger gleich fast zwei Stunden. Insgesamt 16 Stunden Film zeigt die großartige Ausstellung, die erst wieder endet, wenn es der Technik zu kalt wird im Turm der ehemaligen Zeche, aber das ist ja noch ein paar Wochen hin.
„Feminismen“ | bis 20.12. | Nordsternturm, Gelsenkirchen | 0209 35 97 92 40
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