Damit der erste Livestream der Bochumer-Talk-Reihe auch was Besonderes wird, waren acht Talk-Gäste geladen, Sportler, Comedians, Autoren, alle mit Bezug zu Bochum oder der näheren Umgebung, dazu zwei Musiker. Lamenti über den Lockdown wurden unterbunden; teilweise drohte der Abend daher in Belanglosigkeiten abzugleiten, aber letzten Endes ging um Chancen, darum, wie es weitergeht. Schließlich ging der Zuschauer mit gestärktem Bewusstsein und Optimismus aus dem Facebook-Stream.
Thomas Steinberg hat sich die Bezeichnung „Musikexperte“ redlich verdient: In seinem Berufsleben im Rundfunk, unter anderem beim WDR, hat er rund 2850 Interviews mit Musikern geführt. Er kennt die Geschichten hinter den Hits der Popgeschichte – und hat diese Geschichten in bislang sechs Büchern zusammengefasst: „The story behind … Große Hits und ihre Geschichte“ ist eine Buchreihe voller Anekdoten und Schwänke, Geständnisse und Gedanken. Als Kenner der Kulturbranche findet Steinberg es „desaströs“, dass dieser wichtige Wirtschaftszweig, der sechstgrößte des Landes, „willentlich an die Wand gefahren“ werde. Es fehle ein Bindeglied zwischen Politik und Pop. Wichtige Worte, die der Journalist da sagt, die aber von Moderator Michael Wurst abgewürgt werden. Das Thema Corona und ihre Krisen solle an diesem Abend nicht angegangen werden, da es ja trotz allem noch „so viel Schönes und Lebenswertes“ gebe. Recht hat er mit seiner Einstellung, auch die guten Seiten zu sehen, doch eine reine Wohlfühlsendung würde den Gästen des Bermuda Talks auch nicht gerecht werden.
Glücklicherweise greifen weitere Gespräche des Abends, dem knapp 100 Menschen auf Facebook folgen, dieses wichtige Thema wieder auf, ohne die gute Stimmung, die typisch für die Bermuda Talks ist, zu dämpfen. Die Komiker Helmut Sanftenschneider und Esther Münch sowie Sänger Thomas Godoj sprechen von Problemen, aber vor allem von Möglichkeiten für Künstler, die nun seit einem Jahr kaum auftreten konnten.
Wie sehr Live-Auftritte fehlen
Thomas Godoj hat gerade eben noch ein Wohnzimmerkonzert ins Internet übertragen, bevor er in die Rotunde zum Bermuda Talk gekommen ist. Er erzählt von den unterschiedlichen Möglichkeiten, die das Internet Künstlern und Kreativen bietet, auch im Lockdown für ihre Fans da zu sein. Godoj ist etwa auf Patreon aktiv, einer Online-Plattform, auf der man mit regelmäßigen Zahlungen seine Lieblingskünstler und -projekte unterstützen kann und für die man im Gegenzug exklusive Inhalte erhält. Solche Plattformen haben derzeit viel Zulauf, denn das Bewusstsein der Leute für die Notlage der Künstler wächst. „Die Pandemie ist eine Chance, die Kultur zu stärken“, sagte der Musiker und die Gastgeber stimmten voll zu. Thomas Godoj ist, dank seines Teams, erfolgreich auf Patreon, er hat viele Fans (nach seinem Besuch sind auf einen Schlag 30 Zuschauer weniger im Stream), sein neues Album „Stoff“ läuft trotz Lockdown „ganz gut“ – doch man merkt Godoj an, wie sehr ihm die Live-Auftritte fehlen.
Auch die Bochumer Komödiantin Esther Münch ist im Netz umtriebig. Ihre Bühnenfigur Waltraud „Walli“ Ehlert ist eine Instagram-Figur geworden (@waltraudehlert). Sie berichtet dort flapsig, was sie scharf beobachtet. Sie hat unterschiedliche Formate wie Wallis Lesetipps oder die Wallipedia, in der sie gesellschaftliche Phänomene kommentiert. Auch jenseits dieser Figur zeigt sich Münch als entspannte Gesprächspartnerin, die sieht, was um sie herum abgeht. Zurzeit etwa lege sich ja jeder einen kleinen Hund zu. Dann gehe man raus und sehe all diese erwachsenen Menschen Gassi gehen („Denn die Kinder nerven ja zu Hause“) – aber die Hundeschulen haben ja zu! Was zurzeit los sei in den Parks, könne man sich kaum vorstellen.
Einmal wöchentlich einen Kollegen anrufen
Nichts los hingegen sei bei ihren Kollegen. Als Münch einmal aufgefallen sei, dass ihr Telefon stillsteht, keine Anfragen für Auftritte oder Interviews reinkommen, habe sie beschlossen, einmal in der Woche einen Kollegen anzurufen. Etwas menschlicher Kontakt, etwas Perspektiven und Strategien austauschen, das sei notwendig zurzeit.
Der menschliche Kontakt habe auch dem Comedian Helmut Sanftenschneider gefehlt, als er 2020 Autokino-Auftritte gegeben hat. Autokinokonzerte machen krank, lautet seine Kernaussage. Das sei keine Lösung für die Zukunft. Auch den Autor Thomas Matiszik („Totkehlchen“) habe der „Blues“ gepackt, wie er sagt. Zwar habe er im letzten Jahr eine neue Romantrilogie begonnen, die mittlerweile zu eindreiviertel fertig sei, aber an den „blutrünstigen Szenen“ könne man erkennen, dass ihn der Lockdown mitgenommen hat.
Marcel Maltritz, der wahlweise als „VfL-Legende“ oder „Fußballgott“ angekündigt wird, hat im vergangenen Jahr in Bochum-Langendreer eine Halle für Paddeltennis eröffnet, eine Mischung aus Squash und Tennis, die in Spanien wohl schon beliebter sei als Tennis selbst. Matiszik blickt dank gutem Hygienekonzept zuversichtlich in eine sportliche Zukunft für Menschen jeden Alters. Tänzer und Sänger Reginald „Regi“ Jennings („Starlight Express“ und „The Voice“) erzählt von der Gegenwart, nämlich von den Tücken des Tanzunterrichts über Zoom. Und mit Klaus „Hüpper“ Wagner wurde in die Vergangenheit geblickt, in die Geschichte der Motorradclubs in Deutschland, denn Wagner ist Autor des Buches „Der Freeway Rider: Ein deutsches Rockerleben“.
Zwischendurch gibt es immer wieder Musik von Marius Tilly, der entweder eigene Stücke alleine („Windmills“ mit dem passenden Refrain „Wheels keep moving on“) oder im Duo mit Sängerin Janou spielte oder die anderen Gäste begleitete. Das Duett von Michael Wurst und Esther Münch – Leonard Cohens „Halleluja“ löste bei einigen Zuschauern Gänsehaut aus, wie im Chat zu lesen war.
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