Erst allmählich haben die „Frauen“ – überlebensgroße figurative Skulpturen – die Bedeutung in der Arbeit von Thomas Schütte erlangt, die sie heute in seinem Werk einnehmen. Schütte, 1954 in Oldenburg geboren, in Düsseldorf studiert und dort auch ansässig, gehört zu den wichtigen Bildhauern unserer Zeit. Er wurde mit dem Goldenen Löwen der Biennale Venedig ausgezeichnet; er hat zweimal an der Documenta teilgenommen und wird regelmäßig mit Ausstellungen weltweit geehrt – aber nie wird es langweilig mit seinem Werk.
Bekannt wurde Thomas Schütte in den 1980er Jahren im Kontext der Düsseldorfer „Modellbauer“ mit architektonischen Konstruktionen, welche nüchterne Zweckmäßigkeit mit Verblüffung verknüpfen, viel Plausibles tragen und doch erfunden sind. Bis heute arbeitet Schütte mit diesem Modus, den er zwischen kleinem Entwurf und lebensgroßem Haus umsetzt. Er entwickelt verschobene Bauten mit transparent farbigen Scheiben ebenso wie karge Gerüste; immer aber bleiben das Maß des Menschen und die Plausibilität des Gebrauchs gegenwärtig. Damit aber taucht die menschliche Gestalt in seinem Werk auf, ja, ein weiteres Verdienst von Thomas Schütte und einigen seiner Kollegen ist es, die Figur schon in Zeiten, in denen ein cooler Minimalismus nachklang, wieder salonfähig gemacht zu haben. Die figürliche Gestalt wurde bei Schütte autonom, etwa als Keramik – zum Beispiel mit der Figurengruppe „Die Fremden“ auf der Documenta 1992 – oder den Miniaturen in den szenischen Figurengruppen „Aus dem Leben des Mohren“ (1988-99). Schon in diesen Jahren setzten die „Großen Geister“ ein, die als riesige wulstige Michelin-Männchen in Stahl- oder Aluminiumguss gestenreich und breitbeinig im Raum stehen. Und von 1998 bis 2006 entstand die Werkgruppe der „Frauen“ mit überlebensgroßen Güssen, präsentiert auf Stahltischen, welche sich zwischen Arbeitsauflage und Sockel verhalten. Sie sind nun Gegenstand der Ausstellung im Museum Folkwang.
Schüttes „Frauen“, die auf den Tischen liegen, knien, kauern oder sich winden, sind fragmentiert, plattgewalzt, verdreht oder deformiert. Aber sie bleiben immer als solche erkennbar. Und wie sehr die Maßnahmen und Verfahren der Abstraktion bedacht sind, das belegt jetzt die Ausstellung in Essen mit den achtzehn Figuren, gegossen in Stahl, Bronze oder Aluminium. Sie wird eingeleitet durch die etwas älteren, als Entwurfsskizze dienenden farbigen Keramiken, die sich der plastischen Darstellung der Frau in assoziativen Versuchen nähern und in einzelnen Beispielen auch das Scheitern einbeziehen. In den anschließenden Räumen sind dann die großen „Frauen“ in drei Gruppen zu sechs Skulpturen präsentiert. Die Oberflächen glänzen und glitzern und spielen mit den Reizen barocker Formen. Oder sie sind matt, abweisend, und die Figuren ziehen sich wie in ein Schneckenhaus zurück. Die Gesichter sind idealtypisch, dann wieder fehlen sie vollständig, einzelne Figuren verfügen über ein stilisiertes Haupt oder verzichten sogar auf dieses. Aber auch da bleiben sie portraithaft und individuell. Bei diesem Formenkanon wird sehr schnell klar: Hier handelt es sich um das Rekapitulieren bestimmter Posen und um Hinterfragungen skulpturaler Lösungen, die ihren Ursprung in der Geschichte der Kunst haben. Die Ganzfiguren, Torsi und kubistischen Zersplitterungen lassen sich auf vorzügliche Beispiele der Figurendarstellung von der Antike bis zur Gegenwart zurückführen, etwa auf Picasso und Henry Moore. Sie wirken archaisch und dann wieder wie schnittiges Design. In Essen werden die Skulpturen von Aquarellen begleitet, die als einzelne oder zu Paaren an den Wänden hängen. Eigentlich geht es auf diesen Blättern wieder um ganz andere Sachen – in der Präsentation im Museum Folkwang aber passt alles wie selbstverständlich zusammen.
„Thomas Schütte – Frauen“ I bis 12. Januar I Museum Folkwang, Essen I www.museum-folkwang.de
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