Was wäre das für ein Ruhrgebiet! Alle Gebäude, egal ob Wohnhäuser, Fabriken, oder Bürotürme, sie alle trügen einen grünen Pelz. Flachdächer wären keine Flachdächer mehr, sondern Gemüsebeete oder Obstwiesen. An den Fassaden würde Spätburgunder und Riesling reifen. Frischwaren können sich die Supermarktkunden beim Gang durch die Nutzgartenabteilung selbst von den entsprechenden Bäumen, Stauden und Beeten ernten. Noch scheint diese Vision wenig realistisch. Weltweit und auch im Ruhrgebiet machen sich aber immer mehr Menschen auf, diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Neudeutsch nennt sich dieser Vorgang „Urban Gardening“.
Dabei ist die Idee, das Land in die Stadt zu holen, so neu nicht. Seit der Hochzeit der Industrialisierung Mitte des vorletzten Jahrhunderts versuchen Menschen, den grauen Steinwüsten etwas Grün abzuringen. In den Zechensiedlungen zwischen Duisburg und Hamm waren von Anbeginn die Nutzgärten fester Bestandteil, die von Franz-Josef Degenhardt besungenen Kaninchenställe nicht wegzudenken. Manche Bergmannsfamilie hielt sich sogar als Krönung der Nahrungskette ein Schwein im Schuppen. Erst die Mietskasernen machten Schluss mit solchen Entwicklungen. Bis in die 1950er Jahre wurden die Innenhöfe zugepflastert. Später erlaubten sich die Stadtplaner zumindest glattrasierte Rasenflächen zwischen den Wohnblocks. Die Teppichstange und der Fahrradständer waren die einzigen Elemente zur Möblierung des öffentlichen Raums. Wem trotz Wirtschaftwunder der Gang ins Kaufhaus weniger behagte als das Buddeln in Kraut und Rüben, konnte sich zumindest einen Schrebergarten pachten. Aber Eingelegtes im Einmachglas galt lange Zeit als unmodern. Der Siegeszug der „perfekten“ Tiefkühlkost machte es für viele Menschen unmöglich, mit Erde „verunreinigten“ Salat oder mit Federn behaftete Eier zu kaufen. Dieser Trend scheint hingegen gebrochen.
Wer Schädlinge mit vergorenen Brennnesseln bekämpfen möchte, kann dies selbstbestimmt tun
Die Motive der Menschen, Urban Gardening zu betreiben, sind unterschiedlich. Zunächst einmal macht es manchen Leuten Spaß, im Erdreich zu buddeln und Pflanzen zu hegen und zu pflegen. Manch Hobbygärtner spricht von gleichzeitig sinnhafter und sinnlicher Arbeit. Hinzu kommt, dass der Produzent von Lebensmitteln anders als der bloße Konsument weit mehr bestimmen kann, was auf seinem Teller liegt. Wer Schädlinge lieber mit vergorenen Brennnesseln als mit einem Chemiecocktail bekämpfen möchte, kann dies selbstbestimmt tun. Zwar ist nicht jeder Hobbygärtner ein Ökologe, das beweisen die großen, gutbestückten Giftschränke in den Gartencentern; kleine eigene Gärten bieten aber zumindest die Chance, gesunde Nahrung zu produzieren. Auch einen pädagogischen Aspekt sehen viele urbane Gärtner in ihrem Schaffen berücksichtigt. Gerade Kinder, aber inzwischen auch viele Erwachsene wissen nicht mehr, wie das entsteht, was sie täglich zu sich nehmen. Wachsen die Rosenkohlknollen wie grüner Spargel direkt aus der Erde, oder kann man sie gar von Bäumen pflücken? In Kindergärten wird zunehmend gegärtnert, nicht nur um bloßes Wissen, sondern auch um den Kleinen den Wert von Nahrung zu vermitteln. Die selbst ausgebuddelte Kartoffel wird gegebenenfalls lieber gegessen und landet nicht im Mülleimer wie die angewärmte Tiefkühlpommes.
Die Ursprünge des Urban Gardening, die wahrscheinlich auf dem amerikanischen Kontinent zu finden sind, wurden aber von anderen Motiven geleitet. Sowohl in den Elendsquartieren in Mittel- und Südamerika wie auch in den heruntergekommenen Vierteln in den Metropolen der USA ging es zunächst darum, die soziale Not zu lindern. Jäten statt Betteln, Sähen statt Klauen, Hacken statt Hungern. Die Logik dieser Gedankenketten ist offensichtlich. Der städtische Garten wird hierzulande allerdings wohl für niemanden alleinige Existenzsicherung sein. Hierfür ist die soziale Absicherung in Deutschland verglichen mit Schwellenländern oder den USA doch noch als ausreichend zu bezeichnen, und die Lebensmittelpreise sind zu niedrig. Die Bewohner der Betonghettos gehen lieber zum Billigdiscounter, als dass sie ihre Problemviertel in ökologisch-grüne Oasen verwandeln. Urban Gardening ist bei uns eher in der Mittelschicht beheimatet. Aber es gibt durchaus Modelle, bei denen Beschäftigungsgesellschaften in Trägerschaft der Wohlfahrtsverbände oder der Kommunen öffentliche Grünanlagen pflegen. Hier bestünde durchaus die Möglichkeit, nicht nur dorniges Gebüsch und Rasenflächen zu kultivieren, sondern auch Nutzpflanzen. Gleichzeitig könnten Menschen mit geringem Einkommen etwas Geld verdienen und eine Lebensperspektive erhalten.
Einige in der Urban Gardening-Bewegung haben natürlich auch das Große und Ganze im Kopf. Wem gehört die Stadt? Sollen nur Politiker und Verwaltungsmenschen über die Gestaltung des öffentlichen Raumes bestimmen? Diese Frage birgt gehörig Sprengstoff. Vor drei Jahren eskalierte der Streit um das Bahnprojekt Stuttgart 21 und sorgte für viel Unruhe im Musterländle. Jüngst zeugen die brutalen Szenen aus Istanbul davon, dass ein Park zum Symbol werden kann. Um Grünflächen muss im Ruhrgebiet allerdings wahrscheinlich nicht mehr gekämpft werden. Gegend haben wir hier inzwischen genug.
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