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Fremd im eigenen Land

06. April 2017

„Flucht und Vertreibung 1945: Ankommen im Ruhrgebiet“ – Film & Diskussion am 5.4. beim IFFF Dortmund– spezial 04/17

Geschichte wiederholt sich nicht. Ein Zitat, das angehende HistorikerInnen im ersten Semester lernen. So verkürzt und unvollständig historische Vergleiche sind, da sie den zeitlichen Kontext außer acht lassen – manchmal schadet es nicht, an die Vergangenheit und gewisse Parallelen erinnert zu werden, um unsere Gegenwart besser zu verstehen.

Betty Schiel vom Internationalen Frauenfilmfestival formuliert es in ihrer Moderation salopper: „Wir sollten mehr mit HistorikerInnen reden, denn wir vergessen immer, wie die Party angefangen hat“. Eingeladen hat sie dazu Dr. Dagmar Kift, stellvertretende Direktorin des LWL-Industriemuseums. Mit dem Abend zum Thema „Flucht und Vertreibung 1945: Ankommen im Ruhrgebiet“ ist das Festival erstmals zu Gast im bodo-Buchladen am Dortmunder Schwanenwall und erinnert an die deutsch-deutsche Migrationsgeschichte. Die Veranstaltung ist Teil der Programmreihe „ESC/CTRL“, die Identitäten zwischen Flucht und Ankommen erforschen will.

Grundlage für die Diskussion ist der erste Teil der dreiteiligen WDR-Dokumentation „Flüchtlinge und Vertriebene an Rhein, Ruhr und Weser“ von 2007. In „Ankunft im Westen“ von Erika Fehse erzählen Menschen aus Pommern, Schlesien, Ost- und Westpreußen, Siebenbürgen oder dem Sudetenland 70 Jahre später ihre Geschichte. Sie stehen exemplarisch für Millionen Vertriebene aus den Deutschen Ostgebieten, von denen ca. 1,3 Mio nach NRW gebracht wurden.

Da die Städte nahezu komplett zerstört waren, fanden sie sich nach wochenlangen Odysseen in Güterwaggons schmutzig, verlaust und hungrig auf dem Land wieder. Für Frauen war die Prozedur zur Desinfektion besonders demütigend und viele litten als Folge von Vergewaltigungen auf der Flucht an Geschlechtskrankheiten und mussten mit Penicilin behandelt werden.

Die Familien, bei denen sie von den Alliierten zwangsweise einquartiert wurden, waren nicht darauf vorbereitet, Wohnraum und Leben plötzlich mit Fremden zu teilen. Über die Versorgungslage hinaus gab es noch andere Probleme. Was uns heutige Populisten als „die Deutschen“ und homogene „Volksgruppe“ verkaufen wollen, war nach 1945 eine äußerst heterogene Gruppe. Die Unterschiede in Kultur, Sprache, Mentalität und Religion waren gewaltig. Bestenfalls waren die Einheimischen überrascht, dass die Vertriebenen Deutsch sprachen, manchmal konnte man sich aufgrund der gesprochenen Dialekte auch gar nicht verständigen.

Konfliktpotential bot auch die Religion. Wenn Pegida, AfD und Co. heute das sogenannte christliche Abendland verteidigen, unterschlagen sie, dass Katholiken und Protestanten nach Kriegsende wenig miteinander verband. Gemeinden, die vorwiegend katholisch oder protestantisch geprägt waren und in denen nur eine Minderheit dem jeweils anderen Glauben angehörte, sahen sich plötzlich mit einer Masse Andersgläubiger konfrontiert. Was wir heute unter Ökumene verstehen, war Mitte des 20. Jahrhunderts undenkbar und viele Institutionen des öffentlichen Lebens wie Schulen oder Friedhöfe wurden konfessionell getrennt. In Neuenkirchen mussten die toten Protestanten beispielsweise über den Zaun zu ihrem Friedhofsteil gehoben werden, da sie den katholischen Haupteingang nicht passieren durften.

Es gibt aber auch viele Beispiele von Humanität und Hilfsbereitschaft und heute ist klar, dass die deutsch-deutsche Integration von fast 2 Mio Menschen in NRW (zählt man die DDR-Flüchtlinge mit) eine Erfolgsgeschichte ist.

In der anschließenden Diskussion mit der Historikerin Dagmar Kift wird klar, dass 90 % der Anwesenden selbst eine Migrationsgeschichte haben – die Oma aus Schlesien, der Vater aus Preußen. „Irgendwie sind alle mal hierhin migriert“, wirft Betty Schiel ein, „mit den paar Männekes, die immer schon da waren, wäre das mit dem Ruhrgebiet ja auch nichts geworden“.

Eine Frau im Publikum kann nicht glauben, dass die Einheimischen nichts über die Umstände wussten, wegen der die Vertriebenen zu ihnen kamen. Dagmar Kift widerspricht: „Der Krieg fand in den Städten statt, auf dem Land war wenig zerstört. Die Einheimischen hatten auch kaum Ahnung von Verträgen oder den Abkommen der Alliierten. Die Vertriebenen wiederum waren zu traumatisiert, um über das Erlebte zu sprechen und es hat sie auch niemand danach gefragt“. Kift selbst erinnert sich noch gut, dass in ihrem Elternhaus bei Familienfeiern noch in den 1960er Jahren eine „dunkle Wolke der verlorenen Heimat über dem Kaffetisch“ hing, was die Nachgeborenen nicht verstanden. „Wir Kinder hatten diese Heimat ja nie erlebt und dachten uns irgendwann, steckt euch eure Heimat sonstwohin! Wir hatten damals kein Verständnis für das Leid unserer Eltern und Großeltern, denn schließlich hatte ihre Generation den Krieg ja angefangen“.

Ein andere Frau warnt am Ende dann doch davor, die damalige Situation mit den heutigen Migrationsbewegungen und insbesondere den Menschen, die aus Syrien zu uns kommen, zu vergleichen. „Die Situation in Syrien ist eine andere, die Welt ist heute eine ganz andere als noch vor 70 Jahren. Wir sollten da keine Parallelen ziehen!“, mahnt sie. Und tatsächlich leben wir in einer anderen Zeit, denn Deutschland ist kein zerstörtes Land mehr wie 1945, sondern eine prosperierende Wirtschaftsmacht und wir können nicht behaupten, die Kriege und Zusammenhänge in einer globalisierten Welt nicht zu kennen; Wir wissen, warum Menschen lebensbedrohliche Gefahren auf sich nehmen, um zu uns zu gelangen.

Da ist sie wieder, diese These, dass Geschichte sich nicht wiederholt. Vollständig heißt das Zitat übrigens „Geschichte wiederholt sich nicht und wenn, dann als Farce“ und stammt von Karl Marx. Sollten wir es in Zukunft nicht mindestens genauso gut hinkriegen wie damals, Menschen bei uns Schutz zu bieten und zu integrieren, würde Marx tatsächlich Recht behalten.

Maxi Braun

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