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Foto: Havin Al-Sindy

Die scharfen Scheren der Hochhausfrauen

27. Februar 2019

Die irakisch-deutsche Autorin Karosh Taha über Ver- und Entwurzelung – Literaturporträt 03/19

Ein Hochhaus irgendwo. Ein Wohnblock, der wie ein in die Höhe gewachsenes Dorf mit Leben gefüllt ist. Wohnungstüren werden nicht verschlossen, man geht ein und aus beim Nachbarn, redet sich mit „Tante“ oder „Onkel“ an, auch wenn die verwandtschaftlichen Beziehungen – wenn überhaupt – über zahlreiche Ecken bestehen. Es ist nicht einfach für eine junge Frau, Geheimnisse vor den Eltern, vor den Nachbarn zu haben. Die Zigarette an der Bushaltestelle, das Erwachen der Sexualität – nichts bleibt im Verborgenen. Mitten in Deutschland steht das Hochhaus aus Karosh Tahas Debütroman „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ und doch ragt es heraus aus den grauen Kästen, in denen Anonymität herrscht. Die Nachbarschaft setzt sich zusammen aus kurdischen Migranten, einer älteren Generation, die im Kopf noch der alten Heimat nachhängt und einer jüngeren Generation, die an den Fahrradständern herumlungert und die Zeit totschlägt. Die 22-jährige Sanaa versucht, diesem einengenden Umfeld zu entkommen. Um das ewige Lamentieren der Tante erträglich zu machen, mischt Sanaa ihr Haschisch in den Tabak. Sie studiert, doch häufig ist die Fahrt zur Uni nur ein Vorwand, einen ihrer drei Liebhaber zu treffen. Die Rebellion ist schwierig, wenn die Mutter in Depressionen versinkt und man mit schlechtem Gewissen kämpft.

DER Ruhrgebietsroman?

Der Schauspieler und Literaturenthusiast Till Beckmann (Ruhrpoeten e.V.) bezeichnete das Buch als den „Ruhrgebietsroman, auf den ich gewartet habe“ – dabei wird das Revier mit keiner Zeile explizit erwähnt. Wie verortet die 1997 als Zehnjährige ins Ruhrgebiet gekommene Autorin ihren Roman? „Ich habe bewusst deutsche Ortsnamen rausgelassen, damit das Hochhaus nicht als ein typisches Merkmal eines bestimmten Ortes gelesen wird. Tatsächlich sollte hier ein Viertel in einer unbekannten Stadt beschrieben werden. Bei Lesungen erzählen mir die Leserinnen und Leser, dass sie ein Bild von einem bestimmten Haus oder Viertel im Kopf haben, wenn sie die Beschreibungen lesen oder hören und ob ich auch jenes Viertel kenne oder sie gehen einfach davon aus, dass ich über das von ihnen gemeinte Viertel geschrieben habe. Ich verstehe aber auch, warum viele Menschen aus dem Ruhrgebiet den Roman im Ruhrgebiet verortet lesen.“

Wie sehr das Revier die Wahrnehmung der Autorin geprägt hat, zeigt ihre Aussage: „Was ich am Ruhrgebiet wertschätze, ist die kulturelle Vielfalt, die Heterogenität des Stadtbilds. Wenn ich in einer deutschen Stadt bin und keine einzige Migrantin oder Migranten sehe, werde ich unruhig.“

Sex und Kaffeesatz

„Beschreibung einer Krabbenwanderung“ überrascht mit sehr expliziten Darstellungen von Sexualität und einem starken emanzipatorischen Ansatz. Karosh Taha hat bereits in Interviews dargelegt, dass ihre Eltern aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse das Buch ihrer Tochter nicht lesen können. Doch wie verhält es sich mit den Reaktionen in der kurdischen Community, hat die Autorin hier mit Tabus zu kämpfen? „Der Roman wird sowohl von kurdischen als auch von deutschen Leserinnen und Lesern – auch aufgrund der offenen Sexualität – sehr wertgeschätzt. Deutsche LeserInnen sind immer erstaunt und neugierig, ob die kurdische Community das aushält, aber das Feedback der kurdischen LeserInnen war bis jetzt immer sehr positiv – sie sind froh, dass auch ihre Geschichten endlich in der deutschen Literatur repräsentiert werden.“

Sanaa begibt sich auf eine Spurensuche in die Vergangenheit ihrer Eltern, anhand verschiedenster Quellen will sie herausfinden, wie sie zusammengefunden haben und wann in dieser Beziehung der Bruch erfolgte, der die Mutter in Depressionen versunken auf dem Balkon stehen und den Vater in Sprachlosigkeit erstarren lässt. Unterschiedlichste Versionen der Liebesgeschichte kommen Sanaa zu Ohren, doch selbst Sequenzen eines Hochzeitsvideos bringen der Tochter die Eltern nicht näher, über die Taha sagt: „Nasser und Asija gibt es vielleicht irgendwo in dieser oder ähnlicher Form – ihre Geschichte ist ein Konglomerat aus Erzählungen, Gesprächen und Beobachtungen. Man sollte aber nicht den Fehler begehen, ihre Beziehung als eine typisch kurdische Ehe zu lesen.“ Dass der Roman nicht wie eine Tatsachenerzählung gelesen werden kann, dafür sorgen allerdings auch surreale Elemente vom Kaffeesatzlesen über Liebeszauber bis hin zur wortwörtlichen Verschmelzung zweier Körper, die den Roman in die Nähe des Magischen Realismus rücken. „Ich würde mich als Schriftstellerin nicht in diese Tradition einordnen“, räumt die Autorin ein, „aber Teile des Romans schon. Ich lese gerne spanischsprachige Literatur – allen voran Marquez oder Cisneros – das kommt eher davon.“

Welche Kernidee hat die Autorin inspiriert? Die Situation in solchen Hochhäusern zu beschreiben, das Wechselspiel zwischen Tradition und neuer Heimat, die verschiedenen Frauenrollen? „Mich hat die Umkehrung der Verhältnisse, die Umkehrung der Beziehung zwischen Eltern und Kindern interessiert und umgetrieben. Darüber wollte ich schreiben – im Laufe der Geschichte hat sich mein Blick auf die Elterngeneration verändert – mir ist viel mehr als vorher bewusst geworden, welche Bürde und Last unsere Eltern aufgrund der Migration ertragen mussten und immer noch müssen.“

Wort ohne Körper

Auch wenn sich Sanaa von Traditionen und familiären Erwartungen loszulösen versucht, bleibt sie letztlich – selbst im universitären Umfeld – im eigenen Mikrokosmos aus Migranten. Die Männer in ihrem Leben heißen Adnan, Omer, Mahmut. So scheint der Roman selbst in Sanaas Generation ein Spiegelbild einer Parallelgesellschaft. „Parallelgesellschaft ist ein Wort ohne Körper für mich“, stellt Taha klar. „Er ist eine politische Ansage, die die Assimilation von MigrantInnen fordert. Das eigentliche Problem unserer Gesellschaft ist nicht die Vielfalt der Kultur, sondern das Auseinanderdriften der sozialen Schichten – das kann man auch in der Beziehung von Sanaa und Adnan sehen. Er hat einen akademisch-bürgerlichen Hintergrund und hat dementsprechend keine Ahnung, was bei Sanaa zu Hause los ist – er lebt in einer anderen Realität. Wäre Adnan ein deutscher Name, hätte man die Gegenüberstellung von deutsch-kurdisch gemacht – das wollte ich vermeiden.“

„Es geht hier nicht um kulturelle Unterschiede, sondern um soziale – der kulturelle Hintergrund ist nur ein weiteres Merkmal für die Mehrheitsgesellschaft, Menschen als Mitglieder einer ‚Parallelgesellschaft‘ zu kategorisieren. Adnan und seine Familie sind eigentlich assimiliert – ihre ‚Kultur‘ nur noch ein Accessoire aus dem Urlaub. Trotzdem siehst du ihn als einen Migranten, weil er Adnan heißt“, entlarvt sie die ungewollt voreingenommene Interviewfrage: „Dann stellt sich die Frage, wann Adnan als deutsch gilt.“

„Ich habe während meiner Studienzeit beobachtet, dass biodeutsche StudentInnen unter sich geblieben sind. Wenn ich dabei war, drehten sich die Gespräche meist um Sachen, die damals in meinem Leben nicht von Relevanz waren und deswegen konnte ich mich nicht einbringen. Im Gespräch mit anderen MigrantInnen fühlte ich mich eher verstanden – ihnen musste ich nichts erklären oder mich rechtfertigen. Wenn ich im Ausländeramt gedemütigt worden bin, dann wusste ich, dass ich nur mit jemandem darüber sprechen kann, der genau weiß, wie Menschen in solchen Ämtern behandelt werden. Ich habe trotzdem viele und auch gute Freunde mit biodeutschem Hintergrund, die reflektiert sind, meine Erfahrungen in Deutschland nicht als Einbildung abzutun.“

Andererseits bietet gerade das Ruhrgebiet mit seiner breit gefächerten Literaturszene Möglichkeiten der Vernetzung und des Aufbrechens von Grenzen: „Das Ruhrgebiet hat sehr viele Ressourcen, ich würde mir sehr wünschen, dass es mehr Vernetzung, viel mehr Kommunikation gibt – und mehr Veranstaltungen, um das literarische Leben im Revier mehr zu beleben. Es muss mehr finanzielle Unterstützung des Landes für künstlerische Formen geben, damit eine reiche Kultur im Ruhrgebiet entsteht.“

Shots und Chai

Wie um diesen Wunsch zu bekräftigen, ist im März das spartenübergreifende Projekt „Shots und Chai“ in mehreren Ruhrgebietsstädten zu erleben, eine Leseshow abseits von Autor-an-Wasserglas: „Die Idee dazu kommt von Till Beckmann und mir. Wir haben uns bei einer gemeinsamen Lesung kennengelernt und darüber gesprochen, wie wenig die KünstlerInnen im Ruhrgebiet vernetzt sind und wenn sie vernetzt sind, dass zu wenig miteinander gearbeitet wird. Wir haben paar Ideen ausgetauscht, was man im Ruhrgebiet literarisch verbessern könnte und dann ist die Idee dazu entstanden. Das ist keine übliche Lesung, ich werde als Autorin nicht im Vordergrund stehen: wir haben Sebastian Maier als DJ, die animierten Bilder kommen von Havin Al-Sindy und Patrick Praschma, die Schauspielerin Jennifer Ewert wird mit mir auf der Bühne stehen und einige Passagen vorlesen. Das sind alles Künstlerinnen und Künstler aus dem Ruhrgebiet, die wir zusammengebracht haben. Mit diesen Medien tasten wir uns an die Geschichte heran.“

Karosh Tahas nächster Roman ist bereits für das Frühjahr 2020 im DuMont-Verlag in Planung.

Karosh Taha: Beschreibung einer Krabbenwanderung | DuMont Verlag | 240 S. | 11 €

Shots und Chai – Leseshow | 16.3. Alter Wartesaal Herne, 28.3. Trinkhalle Bochum, 29.3. KaBü Essen | 02043 99 26 46

Lesung | 10.4., 19.30 Uhr | Werkstatt e.V., Gelsenkirchen-Buer

Frank Schorneck

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