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13 Jahre Duldung – Nizaqete Bislimi überwand viele Hindernisse
Foto: Ulrich Schröder

Asylrecht ist Menschenrecht

17. Januar 2016

Nizaqete Bislimi in Oberhausen: Eindrucksvolle Ruhrwerkstatt-Lesung – Literatur 01/16

In ihrer rund 240-seitigen autobiographischen Schilderung „Durch die Wand – Von der Asylbewerberin zur Rechtsanwältin“ (Dumont 2015) ist der kosovarischen Autorin und Rechtsanwältin Nizaqete Bislimi ein sehr eindrucksvolles persönliches Portrait der Fluchtgeschichte ihrer Familie gelungen, die für sie zur hart erkämpften Erfolgsgeschichte wurde. Die rund 30 Gäste in der Ruhrwerkstatt im Oberhausener „Aka 103“ am 15. Januar 2016 waren spürbar beeindruckt von der berührenden Migrationsgeschichte der damals Vierzehnjährigen und ihren vier Geschwistern sowie ihrer Mutter, die 1993 zunächst ohne den als Reservisten zur serbischen Armee eingezogenen Vater über die Slowakei nach Deutschland flieht. Inzwischen ist Nizaqete Bislimi Vorsitzende des 2012 gegründeten Bundes-Roma-Verbandes sowie Rechtsanwältin in Essen und setzt sich für das Bleiberecht Geflüchteter ein.

Ob es um die Einrichtung ihrer Bleibe im Wohncontainer eines Oberhausener Asylbewerberheims, kulinarische Heimatgefühle oder den Duft von Orangenschalen als prägende Fluchterinnerung geht – Nizaqete Bislimi ist mit ihrem Buch „Durch die Wand“ ein sehr plastisches Portrait ihrer bewegenden Geschichte gelungen. Zwei Jahre nach Beginn des Jugoslawien-Konflikts entschließt sich ihre Mutter, eine Romni, angesichts wachsender Spannungen zwischen der albanischen Mehrheit und der serbischen Minderheit im Kosovo zur Flucht. Ihr Mann, der der vorwiegend muslimischen Minorität der Aschkali angehört, ist zunächst skeptisch, stimmt aber schließlich zu und will nachkommen, sobald ihm das serbische Militär seine Papiere zurückgibt – was erst Jahre später gelingen soll. Seine fünfköpfige Familie macht sich in Ermangelung von Visa zur ‚illegalen‘ Einreise nach Deutschland auf: Tief in der Nacht erreicht die Mutter mit ihren fünf Kindern samt Fluchthelfern bei Dauerregen völlig erschöpft die deutsche Grenze.

„Ich kann mich nicht erinnern, Angst gehabt zu haben“, blickt Nizaqete, deren „q“ im Vornamen wie „sch“ ausgesprochen wird, zurück – „für uns Jugendliche war das Ganze ein einziges großes Abenteuer.“ Nach einem kurzen Intermezzo bei Bekannten und Verwandten beschließt die Mutter, sich mit ihren Kindern der bürokratischen Prozedur der Erstaufnahme samt schon 1993 üblicher ‚Formalia‘ wie der Abnahme von Fingerabdrücken zu stellen. „Ihr habt nur dann eine Chance, wenn Ihr Euch als Albaner meldet“, wird Nizaqetes Familie geraten, sodass sie lange ihre Wurzeln als Roma und Aschkali – eine vorwiegend muslimische Minderheit auf dem Westbalkan – verschweigt. Im Falle einer Abschiebung wäre dies aus ihrer Sicht ohnehin kaum relevant: „Ob man uns als Albaner tötet oder als Kosovaren, kommt aufs selbe heraus“, so die bittere Erkenntnis. Die Angst vor einer raschen Abschiebung jedenfalls ist ständig präsent – denn bereits im Jahr der grundlegenden Neuregelung des Asylrechts, die von einer der schärfsten politischen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit begleitet ist, kursiert in Deutschland die Parole: „Das Boot ist voll.“

Diese Devise erhält tatsächlich reale Züge, denn zunächst werden die Bislimis auf einem proppenvollen Schiff im Düsseldorfer Rheinhafen untergebracht. „Auf schwankendem Grund“ ist das Kapitel treffend überschrieben, in dem die Autorin sehr eingängig die mit dem Status der Duldung einhergehende permanente Unsicherheit sowie die Symptome der Entfremdung fern der Heimat schildert. „Alles schien so unwirklich – auch mein eigenes Gesicht kam mir fremd vor“, beschreibt Nizaqete ihre ersten Eindrücke in der Fremde. Doch sie bleibt optimistisch: „Ich war 14 Jahre alt – das Leben lag vor mir.“ Auch als den Neuankömmlingen auf dem Flüchtlingsschiff ihnen unbekanntes, oftmals übelkeitserregendes Großküchenessen gereicht wird, verliert Nizaqete nicht den Mut. Zwar beschreibt sie, dass mit den fehlenden heimatlichen Gerichten „ein letztes Stück Geborgenheit“ verloren geht: „Schwarzes Brot – das konnten wir nicht verkraften.“ Wenngleich die kulturelle Konstante traditionellen Essens – z.B. Pite mit frischem Spinat oder das Blätterteiggebäck Fli – abreißt, konstatiert die Autorin sarkastisch, dass nun zumindest die häufige Pflicht des Gießens des eigenen Gemüsegartens per Hand entfällt. Rührend umschrieben, manifestiert sich hierin zugleich der mit ihrer Flucht einhergehende soziale Statusverlust der Familie Nizaqetes – besaßen die Bislimis in ihrer Heimat doch einen Hof, der in den 70ern mit dem ersten Wasseranschluss im Dorf ausgestattet war. Nizaqetes Elternhaus zumindest stehe auch heute noch – mehr möchte sie dazu nicht sagen.

Das „Fußfassen in der Fremde“ gestaltet sich weiterhin kompliziert – auch als die Familie später wieder dauerhaft festen Boden unter den Füßen hat. Irritationen über deutsche Gepflogenheiten prägen Nizaqete Bislimis Gedankenwelt – war es für sie als Kind doch beispielsweise undenkbar, dass Menschen gemeinsam mit Hunden in denselben Räumen leben. Nach ihrem Rheinschiff-Intermezzo wächst sie in Oberhausen auf, wo sie den Großteil ihrer Jugend in Deutschland verbringt. Die erste Station, Barmingholten im nordwestlichen Ortsteil Sterkrade, ist wiederum eine bedrückende Erfahrung: „In unserer Baracke lebten an die 100 Menschen“ – inklusive „scharenweise Kakerlaken“, sodass Nizaqetes Mutter die Unterbringung regelmäßig mit Insektenspray behandelt. „Diese Baracken waren einfach nur furchtbar“, bringt es Bislimi rückblickend auf den Punkt. Die Tochter sehnt sich danach, eines Tages ein „eigenes sauberes Bad in einer geschmackvoll eingerichteten Wohnung“ zu haben und bleibt stets voller Hoffnung: „Tief in meinem Herzen war ich mir sicher, dass es eines Tages so sein würde.“ Auch die Kommunikation mit der Außenwelt gestaltet sich nicht unproblematisch – gibt es doch vor der Unterkunft lediglich eine einzige Telefonzelle für die rund 400 Menschen vor Ort. Die Verzweiflung unmittelbar nach der Ankunft weicht allmählich gedämpftem Optimismus, wenngleich der Aufenthalt der Familie in Deutschland nur geduldet bleibt – was sich erst nach 14 Jahren für die Mutter und ihre beiden Töchter ändern würde. Bis dahin prägt die tägliche Furcht vor der Abschiebung weiterhin das Leben der Familie.

Eine weitere Erschwernis des Alltags der Geflüchteten stellt die als ausgrenzend und „extrem erniedrigend“ empfundene Warengutschein-Diskriminierung' dar: Nur äußerst unwillig werden Gutscheine in Lebensmittelläden entgegengenommen und lediglich Kleinstmengen an Münzen als Wechselgeld ausgezahlt. Erst der Umzug in ein Containerdorf an der A3 bringt eine kleine Verbesserung der Lebensumstände der Bislimis – ein Lokaljournalist berichtet über ihren Einzug in einen der geräumigeren Wohncontainer, die jeder Familie ein eigenes Bad und eine eigene Küche bieten. Zudem werden die Neuankömmlinge von einer Bürgerinitiative sogar mit einem Begrüßungsfest empfangen. Doch das scheinbare Idyll ist trügerisch: Handelt es sich bei der Gruppe doch um eine Gegengründung zu einer Initiative gegen die Errichtung des Containerdorfs…

Nizaqete Bislimis Augen leuchten, als die Autorin während der Lesung den Satz sagt: „Wir sind wirklich ganz tollen Menschen begegnet.“ Schlüsselerlebnisse sind die Einladung zu einer Reise ans Meer oder auch einfach nur die kleine Geste, von einer Deutschen, der Nizaqete später an der Uni wiederbegegnen soll, im Auto mitgenommen zu werden. Im Kapitel „Lernen gegen die Verzweiflung“ beschreibt Bislimi eingangs die Stimmung in Deutschland ein Jahr nach der NATO-Intervention im Kosovo, als Anfang 2000 öffentlich diskutiert wird, sämtliche von dort geflüchteten ungeachtet ihrer ethnischen Zugehörigkeit zurückzuführen – also auch Roma und Aschkali. Auch zwei Jahre später erhält die inzwischen an der Ruhr-Universität Bochum eingeschriebene Jura-Studentin trotz eines Hilfskraftsjobs in einer Anwaltskanzlei immer noch keine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. „Meine Situation war so unglaublich grotesk“, blickt die Autorin zurück. Immerhin kann sich Nizaqete für ihre jüngere Schwester mitfreuen, die bereits 2001 ein solches Dokument erhalten hat, nachdem ihr bescheinigt worden ist, dass sie sich ökonomisch selbst versorgen könne.

Der Antrag ihrer Mutter auf Arbeitserlaubnis hingegen wird wiederholt abgewiesen. Bürokratische Hürden dienten insgesamt als gezieltes Mittel der Ausgrenzung, ist sich Bislimi sicher – so liege etwa die Erteilung einer Arbeitserlaubnis „immer im Ermessen der Ausländerbehörde“. Bleibt die Erlaubnis aus, habe dies gravierende Folgen: „Wenn du nicht arbeiten darfst, gehörst du nicht dazu“, konstatiert die Autorin. Erst durch Nizaqete Bislimis Jura-Studienbeginn an der Ruhr-Uni dreht sich für sie der Wind: „Du kannst Dich einschreiben – für uns ist die Duldung irrelevant“, heißt es dort unbürokratisch zur Frage ihrer Immatrikulation. Hierdurch entfällt andererseits jedoch die Möglichkeit, Sozialhilfe zu beziehen – und BaföG erhält Bislimi ebenfalls nicht. Das Ganze sei „pervers mit System“, äußert ein Zuhörer bei einer Zwischenfrage seinen Unmut.

Nizaqete Bislimi jedenfalls kämpft weiter und kann sich als Jura-Studentin trotz Duldungsstatus durch ihre Hilfskraft-Tätigkeit finanzieren. Während sie im Juni 2006 Dank einer Gesetzesänderung  endlich eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erhält, ist sie, die Geduldete, bereits als Referendarin beim Amtsgericht tätig. Ermöglicht wird die Statusänderung durch eine Novellierung des Aufenthaltsgesetzes, dessen § 25 nunmehr den „Aufenthalt aus humanitären Gründen“ erleichtert – statt ‚Kettenduldungen‘ soll eine Gleichstellung in Deutschland verwurzelter Ausländer mit Inländern erreicht werden. So heißt es in Absatz 5: „Die Aufenthaltserlaubnis soll erteilt werden, wenn die Abschiebung seit 18 Monaten ausgesetzt ist.“ Dennoch ist es bis heute weiterhin Praxis, auch im Falle einer ‚gelungenen Integration‘ bei Familien erst nach sechs bzw. bei Alleinstehenden nach acht Jahren eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung zu erteilen.

Erst vor anderthalb Jahren – also zwei Jahrzehnte nach ihrer Flucht – wurde Nizaqete Bislimi die deutsche Staatsangehörigkeit zuerkannt. Die Verleihung ihrer Anwaltsurkunde schließlich hat sie „unheimlich glücklich“ gemacht. Beides hat schließlich dazu beigetragen, dass sie fortan selbstbewusster durchs Leben geht und nunmehr auch zu ihren ethnischen Wurzeln als Roma und Aschkali steht. Entscheidender Anstoß jedoch ist ein weiteres Schlüsselerlebnis bei einer Reise in den Kosovo, welche ihr die innere Zerrissenheit zwischen ihren facettenreichen kulturellen Identitäten vor Augen führt, nachdem viele Roma wegen angeblicher Kollaboration mit den Serben von Albanern getötet worden sind. Die Entscheidung, sich nach dieser Reise und ihrer schließlich geglückten Einbürgerung auch endlich zu ihren Wurzeln zu bekennen, bereut Nizaqete Bislimi nicht: „Es war anders, als ich befürchtet hatte.“ Menschen aus verschiedensten Herkunftsländern engagieren Bislimi weiterhin ohne jegliche Vorbehalte als Anwältin und es spielt keinerlei Rolle, dass sie als Mitgründerin des Bundesverbandes der Roma inzwischen als dessen Vorsitzende fungiert.

Sorgen bereitet Bislimi jedoch die aktuelle Stimmungslage in Deutschland, die asylpolitische Rückschritte nach sich zieht: „Kosovo als sicherer Herkunftsstaat ist einfach ein künstliches Konstrukt.“ Über die fortdauernde strukturelle Diskriminierung der Roma (nicht nur) im Kosovo wird hierdurch hinweggesehen. „Maßstab war nicht die tatsächliche menschenrechtliche Situation vor Ort“, ist die Bundesvorsitzende des Roma-Verbandes überzeugt. Zudem sind im Kosovo weiterhin NATO-Truppen stationiert, was eine Einschätzung als ‚sicherer Herkunftsstaat‘ zweifellos zusätzlich fragwürdig erscheinen lässt. Als Juristin hält Bislimi generell nicht viel von einer solchen Kategorisierung, denn: „Asylrecht ist ein individuelles Recht“, stellt die Anwältin klar.

Nizaqete Bislimi: Durch die Wand – Von der Asylbewerberin zur Rechtsanwältin | Dumont | 256 Seiten | 19,99 €

Ulrich Schröder

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