Kommunalwahlkampf an Bochumer Straßenlaternen. Der Verlauf von hell- zu dunkelblau auf einem Plakat der AfD setzt sich farblich nahtlos fort in dem Plakat, das direkt darunter für Jörg Lukat (SPD) wirbt, den gemeinsamen Bürgermeisterkandidaten von Sozialdemokrat:innen und Grünen. Für alle, die am Donnerstagabend mit der Straßenbahn zur Eröffnung des Unlimited Hope Filmfestivals anreisen, hält der Weg von der Haltestelle zum Fritz-Bauer-Forum damit eine Erinnerung bereit, auf welchen Zeitgeist die Veranstalter:innen reagieren.
Der Eindruck, dass die Parteien der „politischen Mitte“ nach wie vor keine überzeugende Antwort auf die wachsende Beliebtheit der AfD gefunden haben und sich ihr nicht nur gestalterisch, sondern auch politisch immer weiter annähern, prägt den gesamten Abend. Jakob Gatzka, Direktor des Festivals, weist gleich in seiner Eröffnungsrede darauf hin: „Das Programm des ersten Festivals 2021 war internationaler, diesmal haben die Filme viel mehr mit Deutschland zu tun. Die Probleme rücken näher.“ Dass die ausgewählten Dokumentationen nicht versuchen, neutral zu berichten, sondern einen klaren Standpunkt einnehmen, findet Gatzka „der Gegenwart angemessen“. Klar zu benennen, um welche Probleme es geht und nach Lösungen zu suchen, ist das erklärte Ziel des Festivals.
Suche nach Lösungen
So beschreibt auch der aus Bochum stammende Tobias Cremer, EU-Abgeordneter der SPD und Schirmherr des Abends, in seinem Grußwort den Film als das Medium, das den Widerstand im Kleinen sichtbar mache, Menschen, die sich füreinander einsetzten, deren Geschichten sich nicht in Zahlen und Statistiken erzählen ließen. Dann kommt er auf den Auftaktfilm zu sprechen und macht keinen Hehl daraus, dass das Verhältnis eines sozialdemokratischen Abgeordneten des EU-Parlaments zur Dokumentation „Kein Land für Niemand“ nicht unkompliziert sein kann. „Das ist ein schwieriger Film, denn er hält uns einen Spiegel vor“. In 112 Minuten dokumentieren die Hamburger Filmemacher Max Ahrens und Maik Lüdemann den deutschen und europäischen Diskurs der vergangenen zehn Jahre rund um Flucht und Migration, darunter: die Äußerung Olaf Scholz’, der im Oktober 2023 als SPD-Kanzler befand: „Wir müssen endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben“, die GEAS-Reform, die vorsieht, Flüchtende in Lagern an EU-Außengrenzen einzusperren, ein neuer Paragraph im Aufenthaltsgesetz, der die Legalität ziviler Seenotrettung mindestens infrage stellen.
Zehn Jahre Flucht
An welches „Wir“ Cremer denkt, dem „der Spiegel vorgehalten“ wird, verrät er leider nicht. Man kann ihm zugute halten, dass er der Kritik nicht ausweicht, sondern darauf eingeht, als Ahrens sagt, der Rechtsruck unter der Ampel-Regierung habe das Duo aus Hamburg überrascht. „Wenn man den Film aus der Politikerperspektive sieht, zeigt er natürlich die Schere im Kopf zwischen den Diskussionen im Tagesgeschäft und den Einzelschicksalen. Unser großer Fehler war, dass wir viel zu lange geleugnet haben, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist“, erklärt er und wählt dann doch technokratische Formulierungen, wie sie „Kein Land für Niemand“ so präzise auseinandernimmt: „Hätten wir uns dazu früher bekannt, hätten wir jetzt nicht diese Kapazitätsprobleme. Die Herausforderung ist jetzt, die Kontrolle zurückzugewinnen“.
Ein wuchtiger Film
In den Minuten vor der Filmvorführung füllt sich der Saal noch einmal deutlich und ist voll besetzt, als dann die Lichter ausgehen. Das große Interesse an „Kein Land für Niemand“ überrascht Ahrens und Lüdemann nicht zum ersten Mal. Dabei hält der Film eigentlich nichts Neues bereit für diejenigen, die die Debatten der letzten Jahre mitverfolgt haben. Trotzdem ist es eine wuchtige Erfahrung, die Verrohung, die rassistischen Eskalationen in Rhetorik und politischen Entscheidungen noch einmal komprimiert in zwei Stunden zu durchleben. Der Film schont sein Publikum nicht, er dokumentiert Menschenrechtsverletzungen: auf dem Mittelmeer, an der polnisch-belarusischen Grenze oder in deutschen Städten von Greiz bis Schleiz, wenn Landrät:innen Geflüchtete mit Bezahlkarte und Zwangsarbeit drangsalieren.
Verachtung und Kälte aus der Politik
Die stärkste Reaktion im Saal erntet nicht die Gewalt der lybischen Küstenwache, sondern Martina Schweinsburg (CDU), bis 2024 Greizer Landrätin und Erfinderin der Bezahlkarte, als sie Geflüchtete aus afrikanischen Ländern als „Ziegenhirten“ bezeichnet. Auf die Frage, was schlimmer gewesen sei, das Interview mit Schweinsburg oder der Besuch auf dem SPD-Parteitag, bei dem dokumentiert wurde, wie sozialdemokratisches Spitzenpersonal von Saskia Esken bis Boris Pistorius Vertreter:innen der Seenotrettungsorganisation Sea Eye abblitzen lassen, sagt Ahrens: „Der Parteitag war auf jeden Fall langweiliger.“
Humanitäre Gegenbewegung
Immer wieder lernt das Publikum auch diejenigen kennen, die sich der menschenfeindlichen Migrationspolitik entgegenstellen. Organisationen wie Sea Eye, Geflüchtete, die es nach Deutschland geschafft haben und hier für ihre Rechte kämpfen und hochkarätige Expert:innen wie der Soziologe Aladin El-Mafaalani oder die Politikwissenschaftlerin Simin Jawabreh. „Wir haben uns total gefreut, dass so viele Leute, die wir uns für den Film gewünscht haben, mitgemacht haben“, sagt Lüdemann. So viele sogar, dass nicht alle Interviews verwendet werden konnten – die habe das Duo stattdessen als Kurzvideos in sozialen Medien veröffentlicht.
Mit kleinem Budget
Hoffnung macht der Film, indem er beweist, dass Gegennarrative möglich sind, trotz widriger Umstände. Ahrens und Lüdemann haben für ihren ersten Langfilm auf konventionelle Filmförderung verzichtet. Um zeitnah und unabhängig arbeiten zu können, kooperierten sie stattdessen mit NGOs wie Sea Eye und Pro Asyl und entschieden sich dafür, mit einem sehr kleinen Budget zu arbeiten. Filmemacherin Sung Hyung Cho, Mitglied der Festivaljury, betont: „Hier wurde sehr viel Geld durch engagierten Einsatz wettgemacht.“
Öffentlich-rechtliche Medien schweigen
Wie wichtig Festivals wie Unlimited Hope sind, wird klar, als es um die Reaktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auf „Kein Land für Niemand“ geht. Anfragen, die Dokumentation im Fernsehen zu zeigen, sind bisher erfolglos geblieben. „Es gibt da große Berührungsängste mit unserem Film, sicher wegen der Nähe zu den NGOs, aber auch durch Angst vor rechten Shitstorms“, erklärt Ahrens, „die Strukturen im ÖRR sind wirklich verkrustet, da werden vor allem die Sehgewohnheiten eines alternden Publikums bedient, das sich auf keinen Fall aufregen oder wegschalten soll“. Der Befund lautet ähnlich wie die für die Parteien der „politischen Mitte“: „Wir sehen da keine Strategie für den Umgang mit der AfD“, sagt Lüdemann. Leichtes Spiel also für die Medien-Akteur:innen, die ihre Narrative tatsächlich aus Überzeugung übernehmen. „Kein Land für Niemand“ ist dennoch kein radikaler Film, Lüdemann und Ahrens stellen bewusst keine Systemfragen. „Wir wollten keinen Film machen, den bei uns im Autonomen Zentrum alle super finden, sondern einen, der diejenigen, die sich als Teil der demokratischen Mitte verstehen, zum Nachdenken anregt“, denn, so Ahrens, „wo passiert denn der Rechtsruck? Die Rechten sind schon rechts. Es ist die Mitte, die sich immer weiter in ihre Richtung bewegt“.
Das Publikum im Fritz-Bauer-Forum haben sie jedenfalls überzeugen können. Das wird deutlich als im Gespräch mit den Zuschauer:innen die Feststellung „Es sollte Pflichtvorführungen von eurem Film geben“ allgemeinen Applaus erntet. Ein Lehrer für Sozialwissenschaften möchte wissen, ob er den Film seinen Schüler:innen zeigen kann, eine Wittener Sozialdemokratin hat ähnliche Pläne für ihren Kreisverband. Nachdem im Fritz-Bauer-Forum der Festivalauftakt endet, auf dem Rückweg zur Straßenbahn, wird das AfD-Wahlplakat im Gras neben der Straßenlaterne langsam vom Regen aufgeweicht. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
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