Die Welt machte sie zu einer Hure, dann machte sie die Welt zu einemBordell. Friedrich Dürrenmatt zeigte bereits in den 1950ern mit seiner „Alten Dame“ wie die Gesellschaft im Inneren beschaffen ist. Des Pudels Kern bleibt der schnöde Mammon, und dafür gehen wir alle über Leichen, wenn nicht in der Nachbarschaft, dann in Übersee, und sagen Sie nun nicht, das hätten Sie nicht gewusst. Im Theater an der Ruhr besucht Claire Zachanassian natürlich nicht Güllen im Irgendwo, sondern Müllen irgendwie nebenan, die Inszenierung von Albrecht Hirche trifft die Tradition des Hauses. Schrill, plakativ, mit einem Hausherrn als köstlich piepsenden Eunuchen treibt er die Groteske um einen Mord für Millionen Euro voran. Alle haben ihren Job auf dem T-Shirt, was eine Zuordnung erleichtert, aber auch das comichafte Wesen der Regie unterstreicht.
Alles scheint aus der Realität zu fallen, gezeichnete Requisiten, wirre Kostüme und Protagonisten die ihre Schrillheit kaum im Zaume halten können. Denn der Zwang zum Handeln schleicht sich erst spät in die Seelen der Stadtmenschen, die nach und nach ihr Leben verpfänden und nicht nur das vom Übeltäter Alfred Ill. Der macht in Müllheim (sorry) schnell eine ausgesprochen gute Figur. Gegen die Geldsäcke, die Claire dem Dorf und dem Petrikirchenchor verspricht, setzt er seine Bereitschaft zum Tod, aber nicht durch eigene Hand. Die Institutionen haben da längst versagt. Egoismus versus Demokratie, das ging noch nie gut, den „Stairway to heaven“ wird er gehen, am Ende gewinnt die alte Dame, was sich irgendwie auch richtig anfühlt. Den Abba-Song über Zahlungsmittel hätte es am Schluss gar nicht mehr gebraucht.
„Der Besuch der alten Dame“ | R: Albrecht Hirche | Mi 12.12. 11 Uhr u. 19.30 Uhr | Theater an der Ruhr, Mülheim | 0208 599 01 88
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