„Bei der Eröffnung meines Testaments sprach ein Anwalt mit meiner Tochter. Mit sorgenvoller Miene teilte er ihr mit, dass sie mein Geld nur dann erben könne, wenn es ihr gelänge, meine Hattrick-Mannschaft in der dritten Liga zu halten. Dann bin ich schweiß gebadet aufgewacht.“ Peter, 46, lacht noch über seinen Traum, während die anderen in der Otto-Böhne-Arena, kurz: OBA, bereits mit dem Spieltag beschäftigt sind. Wie immer samstags, wenn um 18 Uhr republikweit Anpfiff ist. Das virtuelle Stadion – wochen- tags eine kleine Werbeagentur – besteht aus vier riesigen Bildschirmen und einem großzügig mit Flaschenbier bestückten Kühlschrank. Für Unbeteiligte steht fest: Fußball-Managerspiele machen süchtig – und vor allem einsam. Zwischen Pizza-Kartons und überquellenden Aschenbechern produzierten solche virtuellen Spiele über- müdete Autisten, vernichteten jeden Rest sozi- aler Kompetenz. Richtig? Was also ist dran an Hattrick, dem weltweit größten kostenlosen Managerspiel, das via Internet inzwischen fast eine Million Spieler rund um den Globus vernetzt? Plötzlich ein Jubelsturm. „Ooootger Barnickel!“ schallt es unisono aus zehn Kehlen. Ein Stürmer von Lars, 41, hat gerade getroffen, nach einigen Wochen Ladehemmung. Er strahlt. „Im Mai 2003 hat der Hattrick-Virus von mir Besitz ergriffen, mittlerweile spiele ich in der fünften Liga. Und Otger ist einfach unverkäuflich.“
JEDER HATTRICK-MANAGER STARTET MIT SPIELERN, TRAINER, STADION UND FANS
Jeder, der sich kostenfrei bei Hattrick online einloggt, startet mit 100 Fans und 50.000 Euro Startkapital, mit Stadion und Trainer. Ziel ist, na klar, den Verein auf Vordermann zu bringen, und dann: aufsteigen. Eine langwierige Angelegenheit, kämpfen doch allein in Deutschland mittlerweile mehrere zehntausend Manager in zehn Ligen um Punkte und Renommee. Eine Saison dauert 14 Wochen, gespielt von jeweils acht Teams. Lars hat gute Laune, Otger schon wieder getroffen. Bis zu 15 Nerds gucken am Otto-Böhne-Platz gemeinsam Hattrick. Das hätte sich Otto Böhne, kommunistischer Politiker aus dem Wuppertal der 30er Jahre, wohl auch nicht träumen lassen, posthum Namensgeber einer virtuellen Fußball-Arena zu sein. „Jaaaah!“ Ein markerschütternder Schrei fräst sich in unsere Gehörgänge. Isis Mannschaft hat den lang ersehnten Ausgleich geschossen. Köpfe von Bierflaschen knallen gegeneinander, Zigaretten glimmen tiefrot, während Männermusik die Arena beschallt. „Highway to Hell!“ dröhnt aus den Boxen, manchmal pumpen auch die Chemical Brothers ihre massiven Basswellen über die Membran. Die Verpflichtung von Jugendspielern, ein gezieltes Training oder der Ausbau des Stadions – auch wenn die Einflussmöglichkeiten eines Managers groß sind, den Verlauf eines Meisterschaftsspiels generiert letztlich der große Hat- trick-Computer. In Schweden, dort, wo 1997 alles angefangen hat, rechnen Server unter Hochdruck Tore, Abseitsstellungen und rüde Fouls von Teams aus derzeit 124 Nationen aus. „Otger Barnickel ist kein Algorithmus! Er lebt!“ Jens Augen glänzen, er meint es ernst. Die verwirrende Erkenntnis, dass vom Computer generierte Daten allzu menschliche Emotionen auslösen können, ist in der elektronischen Musik bereits seit anderthalb Jahrzehnten zu beobachten. Dann, wenn etwa Goa-Sound von der Festplatte konfessionslose Metropolenbewohner in Trance-artige Zustände versetzt. Sehr zur Verstimmung orthodoxer Kulturpessimisten, übrigens. Aber beim virtuellen Fußball? Seitdem Otger Barnickel Lars’ Team bis in die siebte Pokal-Runde geschossen hat, ist er ein Mythos. Zumindest hier, in der OBA. Peter hat seinen Fanclub – „Die so sein wollen wie Otger“ – nach ihm benannt, Isi Otgers Konterfei in Öl verewigt.
IN DER „THERAPIEGRUPPE MITTWOCH“ GEGEN ENTZUGSERSCHEINUNGEN ANTRETEN
„Mittwoch ist der einzige Tag, an dem nichts passiert bei Hattrick. Ansonsten kannst du das Verletztenupdate abrufen, Torschuss trainieren oder Spieler ersteigern.“ Lars‘ Miene verdunkelt sich kurz. Entzugserscheinungen? „Auf jeden Fall. Deshalb haben wir die „Therapiegruppe Mittwoch“ gegründet; in unserem Chat tauschen wir uns über Taktik aus, aber auch über Alltägliches.“ Vielleicht ist die freiwillige Gruppentherapie auch wichtig, um die eigene, durchaus wahrgenommene Absurdität des Handelns zu spiegeln. Jens, 41, nimmt noch einen tiefen Schluck aus der Bierflasche. „Natürlich ist die ganze Angelegenheit skurril, keine Frage. Jeden Samstag treffen sich hier lebensfähige Menschen, die es sexy finden, zusammen eine Datenbank anzuschauen. Was wir hier machen, ist absurd – aber es macht tierischen Spaß.“ Außenstehende allerdings müssen antizipieren, um den Spaß- und Suchtfaktor des Spiels am Computer zu erahnen, sind doch lediglich Textbausteine zu sehen, keine bewegten Bilder, nicht mal Ton. „Im Unterschied zu anderen Manager-Spielen, bei denen man sich alleine in einer Nacht durch mehrere Ligen spielt, ist Hattrick angenehm konservativ.“ Auch Isi, 43, ist seit längerem dabei. Und Überzeugungstäter. „Hattrick wird in Echtzeit gespielt, ist langfristig angelegt. Und wir spielen hier alle zusammen – es geht tatsächlich um Fußball.“ Überhaupt eignet sich das Onlinespiel nicht als Beleg für die These, dass die virtuelle Beschäftigung mit Fußball autistisch und einsam macht. In Hunderten Foren kann der Hattrick-User weltweit mit Gleichgesinnten über die Vorzüge des Flügelspiels spekulieren, Deep House-Neuerscheinungen diskutieren oder aber die geopolitischen Bestrebungen der Amerikaner im Nahen Osten. Jetzt, kurz vor Spielende, stehen alle dicht gedrängt um den Schreibtisch. Gesichter verziehen sich sorgenvoll, Pupillen wandern unruhig von links nach rechts. Und während Eminem musikalisch die Beziehung zu seiner Mutter verarbeitet, haben sich gestandene Männer längst in kleine Jungs verwandelt.
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