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Julia Wissert
Foto: Birgit Hupfeld

„Was bedeutet es eigentlich gerade ein Mensch zu sein?“

27. September 2020

Julia Wissert ist die neue Intendantin am Theater Dortmund – Premiere 10/20

trailer: Frau Wissert, es gibt einen Neustart im Schauspielhaus. Heißt das, dass das Dortmunder Theater irgendwann mal stehen geblieben ist? Braucht eine neue Intendantin einen Reset-Knopf?

Julia Wissert: Nein. Das heißt, dass es zwar einen Stopp gab und man jetzt wieder Play drückt, aber nicht dass man Reset drückt. Es bedeutet, dass ein neues künstlerisches Team ans Haus kommt, das eine neue Melodie auflegt, einen anderen Song spielen wird.

So viel anders, dass das Publikum es merkt?

Das kann ich noch nicht sagen, da muss man ein paar Premieren abwarten. Im Gegensatz zu meinen Vorgängern wird der Fokus nicht mehr so sehr auf Technik auf der Bühne liegen, nicht mehr so sehr um die Möglichkeiten von Technologie gehen. Bei uns wird es eher um die Frage gehen, was bedeutet es eigentlich gerade ein Mensch zu sein – in dieser Welt.

Der Auftakt ist mehr ein theatralisches Feuerwerk: Frischluft-Scharwänzeln in der Innenstadt. Sollen alle weg vom Smartphone-Starren?

Idealerweise wäre der Stadtspaziergang in die Zukunft die Möglichkeit nochmal einen anderen Blick auf die Stadt zu werfen, keine Bildschirme, sondern eine neue Verliebtheit in die Stadt Dortmund.

Passt das denn noch zum Begriff eines Stadttheaters?

Ich finde, das passt unbedingt zum Begriff des Stadttheaters, gerade wenn sich das Theater in die Stadt begibt und Texte aufgeführt werden, die speziell für diesen Ort geschrieben wurden. Wir haben Kolleg*innen eingeladen, sich Dortmund vorzustellen und Dortmund zu erleben, und auf Basis dessen, wie die Stadt wahrgenommen wurde, werden diese Texte geschrieben. Ich weiß gar nicht, ob man mehr Stadttheater sein kann für eine Stadt, als durch eine Stadt spazierend Theater zu machen oder zu erleben.

Man braucht also Wanderschuhe und es gibt keinen Sekt mehr?

Ich glaube nicht, dass es hier eine Stelle gibt, an der man Wanderschuhe braucht. Aber ich lasse mich gerne eines Besseren belehren. Ich würde aber vorschlagen, keine hohen Schuhe anzuziehen, sondern ein bequemes Schuhwerk, mit dem man sich gerne durch die Stadt bewegt und Sekt kann man ja auch draußen trinken.

Reibung einer jungen Regisseurin mit einem alten deutschen Autor“

Als erste große Premiere gibt es am 31. Oktober den urdeutschen Goethe – warum?

Weil wir immer noch ein Stadttheater sind und weil es mitMizgin Bilmeneine Regisseurin gab, die sich sehr gewünscht hat, einen Klassiker zu machen. Und wir uns gefragt haben, was passiert bei der Reibung einer jungen Regisseurin mit einem alten deutschen Autor, der große Thesen über Wissen und Wissensproduktion und Männlichkeit in den Raum gestellt hat, die für uns immer noch Teil unseres „deutschen“ kollektiven Wissens sind. Jetzt kommt diese Regisseurin und fragt, was passiert, wenn man hier einen anderen Blick drauf wirft und wenn wir mit diesem Text sagen, es gibt andere Protagonistinnen als diesen Faust.

Es tauchen ja auch viele Hexen auf.

Es tauchen sehr viele Hexen auf. Denn sie sind ja immer verbunden mit der Frage nach Wissen. Die Hexe war klassischerweise immer die Frau im Dorf, die wusste, wie man heilt und Wunden versorgt, und muss ja nicht zwangsläufig das Klischee sein, das wir von ihr haben. Im Grunde ist es der Versuch, das alte, tradierte Wissen, das irgendwann unsichtbar gemacht wurde, wieder sichtbar zu machen und es gegen diesen Mann zu stellen, der sich auf die Akademie beruft, die behauptet, neues, universal anwendbares Wissen zu produzieren und alles andere unsichtbar macht.

Das Stück wird ja im Großen Haus gezeigt – keine Angst vor steigenden Infektionszahlen?

Wir haben auf jeden Fall Respekt vor der Situation, wie sie gerade ist. Deswegen sind wir täglich damit beschäftigt, das Sicherheitskonzept des Schauspielhauses, so wie wir es entwickelt haben, zu optimieren. Wir haben Desinfektionsspender angebracht, wir haben eine neue Publikumsführung, man wird entweder Einzel- oder Zweierplätze buchen können. Es wird Sicherheitsabstände geben, auch schärfere als es andere Theater gerade umsetzen, aber uns ist es extrem wichtig, auf die Gesundheit unserer Mitarbeiter*innen und auf die Gesundheit unseres Publikums zu achten.

Es gibt eine knappe Million zusätzlicher Fördergelder, damit das Theater sich mit Fragen der Mitbestimmung durch Bürgerinnen und Bürger beschäftigt. Ist die unangenehme Kunst in dieser Gesellschaft am Ende?

Ich glaube, das ist ein Missverständnis. Es gab schon in den 1970ern Versuche von Mitbestimmung am Theater, es gab in den 1980ern Versuche von Mitbestimmung an Theatern. Zuerst geht es darum, diese Fantasie von einem Stadttheater als Elfenbeinturm der hohen Kunst zu hinterfragen. Das hier ist ein Stadttheater für die Stadt Dortmund. Mein Gehalt wird gezahlt von Bürger*innen der Stadt Dortmund. Das ist unser Auftrag: Theater von, für und mit dieser Stadt zu machen. Weil nichts anderes ist ein Stadttheater. Das heißt nicht, dass wir gefällig sind. Ich finde es schwierig zu sagen, „unangenehme Kunst“. Weil ich mich dann frage, was heißt das? Für wen ist diese Kunst unangenehm?

Zuerst geht es darum, diese Fantasie von einem Stadttheater als Elfenbeinturm der hohen Kunst zu hinterfragen“

Polarisierende Textgöttinnen wie Sarah Kane dürften es dagegen dann schwer haben auf dem mitbestimmten Spielplan.

Das ist die Frage. Es geht ja erstmal darum, herauszufinden, was für eine Art von Stadttheater von einer Stadt gewollt ist. Zu sagen, dass Sarah Kane es schwer haben wird, geht davon aus, dass es ein homogenes, einheitliches Publikum gibt. Das ist so ein grundsätzlicher Denkfehler an Theatern. Es gibt kein homogenes Publikum. Die Aufgabe muss doch sein, ein Stadttheater zu schaffen, das unterschiedliche Ansprüche und Wünsche abdecken kann und ein Dialogformat zu finden, um rauszubekommen, was es eigentlich ist, herauszufinden, wie eine neue Ästhetik für ein Stadttheater aussehen kann. Da sind wir ehrlich: Die letzten zehn Jahre lief es nicht so gut an den deutschen Theatern. Sinkende Publikumszahlen, viele Diskussionen von strukturellen Fragen, die immer noch diskutiert werden. Und jetzt erleben wir eine Pandemie und die Frage, welche Rolle Kunst in einer Gesellschaft hat und welche Aufgabe sie erfüllen kann, wird nochmal komplett neu gestellt.

Warum kommt Heidi erst nach Weihnachten?

Warum sollte Heidi an Weihnachten kommen? Es ist Heidi für Erwachsene. Dann ist die Frage, über welche Heidi sprechen wir? Bei Heidi geht es um die Frage, was eigentlich Schönheit ist und wer bestimmt, was schön ist. In der deutschen Popkultur gibt es vielleicht eine andere Heidi, die wir meinen, die sich viel mehr mit der Frage nach Körpern und Schönheit auseinandersetzt.

INTERVIEW: PETER ORTMANN

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