trailer: Herr Berger, Peer Gynt war überbehütet. Sind die Helikoptereltern wieder an allem schuld?
Martin G. Berger: Überbehütet, das finde ich eine interessante Interpretation. Ich glaube auf jeden Fall, dass das Verhältnis von Peer Gynt zu seinen Eltern ein entscheidender Punkt ist und es wird auch in unserer Inszenierung ein entscheidender Punkt sein. Sein reicher Vater hat sich zu Tode gesoffen, die Mutter ist alleine. Für mich war der Ansatzpunkt, dass Peer Gynt eigentlich aus ärmlicheren Verhältnissen kommt, was mit dem Text gut geht, wenn man den Fokus etwas anders legt. Das finde ich spannend. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich ein Jugendprojekt in Hannover gemacht mit 75 Jugendlichen aus schwierigeren Verhältnissen, aus sogenannten Brennpunkt-Schulen. Und da habe ich ganz viele Peer Gynts erlebt. Das war etwas, was mich sehr inspiriert hat, und wo ich angefangen habe, genau über diese Frage vom Elternhaus nachzudenken. Es waren teilweise hochintelligente Kinder, die aber in dem ganzen Bereich Empathie, Herzensbildung, Beziehungsintelligenz völlig auf der Strecke gelassen wurden.Kinder, die alle Menschen als Feinde begreifen, die stark ums Überleben kämpfen, mit denen Parameter nicht funktionieren wie: „Wir verabreden uns für etwas.“ Weil ganz grundsätzliche Vertrauensstörungen da sind. Diese Kinder haben auch genau wie Peer Gynt in einer Tour gelogen. Peer Gynt ist eine Coming-of-age Geschichte, eine Pubertätsgeschichte in den ersten drei Akten, wo jemand gegen Widerstände rennt und versucht, sich zu finden. Im vierten Akt ist es ein Erwachsenenleben und im fünften ist es eine Reflexion über die anderen Akte. Deswegen denke ich, die Eltern sind nicht helikoptermäßig. Ich würde es eher umgekehrt lesen. Eher eine Verwahrlosung, eher eine fehlende Beziehung, eine fehlende Herzensbildung im Elternhaus, in der Beziehung zur Mutter, die sich auf eine ganz rührende Weise am Ende des dritten Aktes nur einmal auflöst, wenn er sie zum Sterben begleitet und ihr nochmal eine Phantasie bietet, die ja auch wieder, wenn man genau liest in der ein bisschen verschwurbelten Sprache des 19. Jahrhunderts, einfach nur lautet: Du hast mal ein schickes Kleid an und bist mit C-Promis im Schloss auf der VIP-Party.
Muss man das als Musical erzählen?
„Peer Gynt“ ist auf jeden Fall ein Stück, das mit einer großen Fantasie, einem großen Stilisierungsgrad daherkommt. Es treten Trolle auf, es singen plötzlich die allegorischen Figuren, es singen die Tränen und Tropfen am Halm – also die singen bei mir, im Stück sprechen sie. Es gibt ein Irrenhaus in Marokko, und es spielt jemand die Hauptrolle, der immer an die Rampe geht und sagt, ich bin der soundso und will das und das. Das waren für mich alles glasklare Zeichen für die Form Musiktheater. Ich finde einen singenden Halm viel natürlicher als einen Halm, der spricht. Und solche abgedrehten Figuren sind Figuren, die danach schreien, dass man eine gewisse Form dafür findet. Und da ich nun mal vom Musiktheater komme, fiel es mir leicht, das darin zu sehen. Es kommen ja auch Puppen vor und ich kam sehr schnell dazu, dass Figuren den Ausdruck des Gesangs als eine Überhöhung gut nutzen können und Peer Gynt singt eigentlich einen „I want“-Song nach dem anderen.
Was macht die Handlung von „Peer Gynt“ immer wieder zeitgenössisch? Ist das der zunehmende Egoismus?
Ibsen hat mit diesem Stück eine prophetische Leistung vollbracht. Eine solche Auseinandersetzung mit dem Individualismus und dem gefühlten Zwang, individuell sein zu müssen, ohne wirklich zu wissen, was ein Selbstsein überhaupt bedeutet, das wird ja in diesem 5. Akt wirklich brillant auseinandergenommen. Das ist so heutig – und das ist genau, was er sagt: so seid ihr eigentlich alle. Das finde ichunglaublich im 19. Jahrhundert, wo es diesen Individualismus ja noch lange nicht gab. Das so zu beschreiben, ist seiner Zeit voraus. Nimmt man die Szene, wo er sich mit den Kapitalisten unterhält, über bestimmte Sachen, das ist so eine Szene. Auch die Troll-Szene, wie da als eine fast diktatorische Sekte gezeigt wird. Besonders toll finde ich da den alten Troll, der sagt, man muss immer nur an sich selber denken und im 5. Akt wieder auftaucht und sagt, scheiße, alle haben immer nur an sich selber gedacht, jetzt bin ich hier total im Eimer und kriege keine Rente. Da muss man gar nicht weit ausholen – das ist an dem Stück fast unheimlich.
„Peer Gynt“ | R: Martin G. Berger | 11.1.(P), 31.1., 5.2. je 19.30 Uhr, 12.1. 18 Uhr, 30.1. 12 Uhr | Theater Oberhausen | 0208 857 81 84
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