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"Ich mache eine Entziehungskur von der Gesellschaft"

01. Mai 2009

Eine Reportage: Über Mango und Robert, Gott und die Welt, praktische Philosophie - Ungeschminkt 05/09

„Ich mache ein Experiment“, sagt der Mann mit dem amerikanischen Akzent bedächtig. „Wie ein Junkie, der aufhört zu spritzen, mache ich eine Entziehungskur von der Gesellschaft.“ Mango Meier starrt angestrengt in die Luft, als könne er Erkenntnis aus dem Subraum ziehen. „Ich versuche, gängige Denkweisen und Bewertungen nicht mehr widerspruchslos hinzunehmen. Etwa das Mantra: Hast du was, also Geld, dann bist du was!“ Prima, denke ich, das macht sich bestimmt gut in geselliger Runde. Aber was bedeutet das praktisch? „Auch ich habe diese Begierden und Zwänge, etwa den neuen Flachbildfernseher zu wollen, ich versuche aber zu widerstehen.“ Die Frage war: Wie praktisch kann Philosophie sein, oder: Wie nah sind sich Erde und Himmel wirklich? Mango Meier könnte es wissen. Der 38Jährige ist Doktor der Philosophie und hat vor anderthalb Jahren „Praktisch Philosophie“ gegründet. Ein „Dialogstudio für sokratische Gespräche“, so steht es auf dem Klingelschild. Mutig, in einer Zeit, in der Anti-Intellektualismus schick ist im Land der Dichter und Denker, Kopfarbeit verpönt, weil sie wesentliche Forderungen des Turbokapitalismus verletzt: die schnelle Kontobewegung und den Fetisch Effizienz. Draußen rauscht der Autobahnzubringer und verspricht Geschwindigkeit, in dem herrschaftlichen Raum drei Etagen darüber liegt eine beruhigende Stille.

Die hohe Decke, verziert mit prächtigem Stuck aus der Gründerzeit, lässt Platz für Gedanken. Mango ist in Deutschland geboren, von dem Bindestrich und seinem zweiten Vornamen ’Michael’ hat er sich getrennt. Lange hat er in den USA gelebt, war Soldat auf Hawaii. „Damals konnte ich noch nicht denken“, fügt er schnell hinterher, „ich brauchte das Geld, weil ich studieren wollte“. Ich bin nicht befriedigt von seiner Antwort. Warum, zum Teufel, sollte es kein Koan sein, keine Denksportaufgabe, Philosophie und Praxis in einem Atemzug zu nennen? „Hier habe ich gelernt, zu denken und wachsam zu sein“. Robert wägt seine Worte sorgsam ab, vielleicht weil er Wirtschaftsmathematiker ist. „Eine intellektuelle Wachsamkeit, um sehen zu können, was mir wirklich wichtig ist im Leben. Und mich für eine Meinung zu entscheiden.“

EIN ORT FÜR MENSCHEN, DIE KEINEN SPASS HABEN, SICH ZU TODE ZU AMÜSIEREN

Eine eigene Meinung, denke ich laut; luxuriös, in diesen Tagen der Uniformität. Wenn der gefräßige Mainstream ganze Volksparteien inhaltlich fusioniert und ehemalige Oppositionelle reibungslos mit der Matrix verkabelt, ohne Turnschuhe, dafür jetzt in Armani – dann ist schon eine eigene Meinung subversiv. „Subversiv und anstrengend“, Robert lacht kurz, um seine Gesichtszüge schnell wieder zu ordnen. „Nehmen wir das sokratische Gespräch, die Technik, die wir hier nutzen. Gemeinsam ein Thema bis zum bitteren Ende durchzukauen, sich auf die Gedanken des anderen einzulassen, ohne vorschnell einzuhaken. Zuhören.“ Robert Pietsch ist von Anfang an dabei. Der 44Jährige ist ein Freund von Mango, und wenn ich ihn Meisterschüler nenne, dann guckt er mich böse an, ohne mich böse angucken zu wollen. Er ist drahtig, sein weißes Hemd ist kantig gebügelt. „Praktisch Philosophie“ ist ein Ort für Menschen, die keinen Spaß mehr haben, sich zu Tode zu amüsieren, so drückt es Mango aus. In den Gruppen werden philosophische und literarische Texte gelesen, bedacht und diskutiert. Ein Labor für Gedanken und Fragen, um wichtige Debatten aus dem akademischen Elfenbeinturm zu befrei- en, das ist Mangos Anspruch. Den Menschen die Philosophie als Werkzeug zur Verfügung zu stellen. Philosophie, praktisch. Keine schlechte Idee, die Ideengeschichte zu entstauben, ist es doch mit der „Liebe zur Weisheit“ – so die Übersetzung aus dem Griechischen – eine Sache für sich. Philosophische Gedanken werden landläufig verschusselten Intellektuellen nachgesagt oder den Aufschneidern zugeschrieben, die schon in der Schule niemand mochte. Die Reaktion normalsterblicher Empfänger auf die oftmals als kryptisch wahrgenommenen Botschaften? Sie kann vom chronischen Achselzucken bis zum gepflegten Minderwertigkeitsgefühl reichen. „Erkenne dich selbst!“ Wie praxisnah ist dieser philosophische Imperativ, diese Forderung? Mango überlegt. „Sehr, weil wir nur als Individuen die Herde verlassen können. Viele Menschen haben verlernt, selbst zu denken, wissen nicht, wer sie sind, was sie wollen. So lange bleiben wir anfällig für Manipulation.“ Hat er sich erkennen können mit Hilfe der Philosophie? „Zumindest weiß ich, was mir wichtig ist.“ Robert zögert. „Wenn ich der Annahme folge, dass es Gott nicht gibt, und dass dieses Leben das einzige ist, dann frage ich mich, warum wir handeln, als ob wir ewig leben würden. In Krisen hat mir das immer wieder den Mut gegeben zu handeln, keine weitere Zeit zu vergeuden.“ Es klingelt, die ersten Kursteilnehmer treffen ein. Zwei Frauen und sechs Männer sprechen an diesem Abend über den Philosophen Ludwig Wittgenstein, diskutieren seine Forderung, die Mehrdeutigkeit von Sprache aufzulösen. Mangos Zurückhaltung ist beeindruckend; er hört aufmerksam zu, schenkt Wasser nach, übt sich in Demut. Doch die Debatte zerfleddert, die Eindeutigkeit von Themen und Argumentationslinien scheint unerreichbar. Ich kann nicht mehr folgen, mir wird schwindelig. Jemand zitiert Wittgenstein: „Worüber man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen“. Ich stehe auf und gehe.

OELE SCHMIDT

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