Die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg: eine Zeit des Übergangs, in der Verlust und Leiden noch nicht überwunden sind, in der aber auch Zuversicht und Ausgelassenheit aufleben. So skizziert Ingeborg Gleichauf die gesellschaftliche Gefühlslage, in der die 1940 geborene Gudrun Ensslin einen Großteil ihrer Kindheit im Baden-Württembergischen Tuttlingen verbrachte. Ingeborg Gleichauf, hervorgetreten durch Veröffentlichungen zu Hannah Arendt, Simone de Beauvoir und Ingeborg Bachmann, hat jüngst eine Biographie Ensslins vorgelegt. Die Lesung in der Essener Buchhandlung Proust ist ausverkauft.
Als Mitbegründerin der Roten Armee Fraktion (RAF) wurde Gudrun Ensslin in den 1970er Jahren zu einem Gesicht des sozial-revolutionären Terrorismus. Ihr Bild sei nach wie vor präsent, bemerkt Armin Flender, Referent am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) und Moderator an diesem Abend des 22.3. Trotzdem sei Ensslin biographisch nicht so gut erschlossen wie die beiden anderen Gründungsfiguren Andreas Baader und Ulrike Meinhof.
Gudrun Ensslin wuchs auf in einem protestantischen Pfarrhaus, in einer großen Familie, in der gemeinsam musiziert wurde. Der zehnjährigen Schülerin bescheinigte man Intelligenz und Wissensdurst. Ein Schüleraustausch, für den sie sich im Schuljahr 1957/58 bewarb, führte sie in die USA. In einem Beitrag für eine Schülerzeitung verglich sie die Schulsysteme Amerikas und Deutschlands: Logisch und vielfältig sei das deutsche Schulsystem, stellte sie fest, das amerikanische dagegen vernachlässige Bildung zugunsten von Sport und Clubleben. Ingeborg Gleichauf betont, Ensslin habe sich bewusst gemacht, dass ihr Urteil auf ihren persönlichen Eindrücken beruhe und es andere Sichtweisen gebe. Auf Fotos jener Zeit sei eine aufgeschlossene, schöne Frau zu sehen, der eine wunderbare Zukunft offengestanden habe.
Sprache sei für Gudrun Ensslin in jungen wie in späten Jahren ein Mittel der Reflexion und des Widerspruchs gewesen, allerdings kein Mittel der politischen Agitation, fährt Ingeborg Gleichauf fort. Das sei auch in einer Folge der ARD-Sendung „Panorama“ von November 1968 deutlich geworden. Hier äußerte sich Ensslin zu ihrer Verurteilung für Kaufhausbrandstiftung: Die Tat wollte sie als Zeichen gegen eine kapitalistische Gesellschaft verstanden wissen. Ensslin habe hier weder programmatisch noch druckreif gesprochen, bemerkt die Autorin. Vielmehr sei Ensslin darauf bedacht gewesen, zu überzeugen, indem sie ihre Motive offenlegte. Damit stehe sie im Gegensatz zu Ulrike Meinhof, deren öffentliche Stellungnahmen im Namen der RAF darauf angelegt gewesen seien, das Individuum einer politischen Gruppenidentität unterzuordnen.
Eine Publikumsfrage lautet, wie diese Charakterzüge Ensslins mit den blutigen Taten der RAF in Einklang zu bringen seien. Der Wunsch nach aktiver gesellschaftlicher Veränderung habe Ensslin von jungen Jahren an begleitet, antwortet Ingeborg Gleichauf. Daneben aber sei ihr Leben geprägt von Brüchen: In der Untersuchungshaft erhielt sie Besuch von einer Kindheitsfreundin und bat diese, jeden Kontakt abzubrechen. Von ihren 1967 geborenen Sohn Felix trennte sie sich früh; er kam zu Pflegeeltern. Ingeborg Gleichauf deutet an, die Gruppendynamik der RAF habe eine Rolle gespielt. Gemeinsam seien die Grenzen des Erlaubten nach und nach verschoben worden – bis es kein Zurück mehr ab.
Die Brüche und die Radikalität in Ensslins Leben möchte die Biografin nicht abschließend erklären. Ihr gehe es auch darum, vorschnellen Festlegungen zu misstrauen, sagt sie. Darüber sei sie selbst erstaunt. Lange Zeit habe sie Gudrun Ensslin als die Terroristin „mit spitzer Nase und spitzem Kinn“ wahrgenommen – in einer Rolle, die ihr von der Gesellschaft zugesprochen wurde. Entscheidend sei aber, Irritationen auszuhalten. „Anders versteht man das nicht“, sagt sie.
Schließlich kommt Gleichauf auch auf ihr eigenes Leben zu sprechen. Im sogenannten Deutschen Herbst, der Hochphase des RAF-Terrorismus, habe sie eine Germanistikprüfung „verhagelt“. Schöne Literatur sei vorübergehend bedeutungslos geworden angesichts des Gefühls, irgendetwas stimme grundsätzlich nicht mit der Gesellschaft. Es führte sie zum Engagement gegen Atomkraft und zur politischen Sensibilisierung ihrer Kinder.
Sie verstehe, dass man „innerlich zur Gewalt kommen kann“. Zum Beispiel angesichts eines US-Präsidenten Trump, der den Klimawandel leugnet. „Da frage ich mich schon: Kann den mal einer aufhalten?“, beschließt Ingeborg Gleichauf den Abend. Das Publikum stimmt applaudierend zu.
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