Es ist die Sonne, der Wind oder das Meer, die Camus in seinem letzten Buch beschreibt, als hätten wir nicht viel mehr auf dieser Welt zu erwarten. Trostlos erscheint das nie, im Gegenteil: „Das Prachtvollste, was die Welt uns zu geben vermag“, schrieb Camus. Die kraftvolle Stimme, mit der Joachim Król die Zeilen am 20.1. im Theater Dortmund liest und die pathetische Musik des „orchestre du soleil“, mit der all das untermalt wird, verleihen dieser Lesung etwas unerwartet Poetisches. Sie laden dazu ein, den Philosophen Camus neu zu entdecken. Und zwar entlang gegenwärtiger literarischer und philosophischer Frontlinien.
Der Schauspieler Joachim Król, der vor allem aus Filmen wie Sönke Wortmanns „Der bewegte Mann“ oder als Essener TV-Komissar Lutter bekannt ist, befindet sich aktuell auf Lesetour mit Camus' Roman-Fragment: Dieses erschien erst posthum 1994. Da waren die einstigen stalinistischen Blockstaaten zusammen gebrochen und mit ihnen die geschichtsphilosophischen Utopien, die Camus' späterer Gegenspieler, der Marxist Jean-Paul Sartre vertrat.
Camus war en vogue. Der individualistische Antipode zu den „großen Erzählungen“ eines Sartre. „Die Sonne lehrte mich, dass die Geschichte nicht alles ist.“ So steht es in „Der erste Mensch“. Aber das Motiv dieses autobiographischen Romans ist die Rückkehr, die Camus beschreibt. Von Paris nach Algier, wo der existenzialistische Philosoph 1913 als Sohn einer Analphabetin auf dem nackten Lehmboden eines Weinguts geboren und unter ärmsten Bedingungen aufwuchs. „Ich wollte in diese Kindheit zurückkehren, von der ich nie geheilt wurde.“ Da ist die taubstumme Mutter, die strenge Großmutter, die dafür sorgt, dass die Familie ohne Vater, der früh im Krieg starb, über die Runden kommt. Und da ist der Lehrer, Monsieur Germain, der diesem talentierten Jungen aus ärmlichen Verhältnissen eine Chance geben will.
Die Rückkehr in das Milieu der Abgehängten, der ArbeiterInnen – das ist das Motiv, mit dem zuletzt Didier Eribon („Rückkehr nach Reims“) den feuilletonistischen Diskurs aufmischte. Auch AutorInnen wie Edourd Louis oder Annie Ernaux sind zu dieser französischen Gegenwartsliteratur hinzuzählen, die für ein Comeback des Politischen in der Literatur steht.
Das ist die Überraschung des Abends in dieser szenischen Lesung mit Joachim Król: Die Themen in Camus' Autobiographie, die sich mit den erwähnten GegenwartsautorInnen überschneiden: Die Armut und die Identifikation mit einer Klasse, die auch nicht verschwindet, wenn man (wie Camus) ins bildungsbürgerliche Milieu wechselt. Die Scham, wegen dieser Herkunft nicht in das Umfeld einer Volkshochschule zu gehören. Bis hin zur Fremdenfeindlichkeit, die Camus in den Menschen sieht, weil sie Angst haben, dass ihnen ihr Job weggeschnappt wird.
In Eribons Autobiographie ist all das etwa in eine gesellschaftliche Reflexion über Identität, Habitus oder Rassismus gebettet. Bei Camus ist das reduziert. Bis hin zu den sinnlichen Passagen, die Joachim Król in seiner szenischen Lesung zelebriert. Als diese fast vorbei ist, wird auf der Leinwand eine Szene von der Verleihung des Literaturnobelpreises an Camus gezeigt. Im Anschluss liest Król den Brief, den Camus auf diesem Höhepunkt seines Ruhms seinem einstigen Lehrer schrieb. Aus Dank. Ihn, seine Mutter, seine Herkunft hat Camus nie vergessen. Das merkt man in jeder Zeile von „Der erste Mensch“. Eine Poesie der Armen.
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