Bücherstapel, ein Grammophon, Salonmusik, mehr nicht. Johann Wolfgang Goethes Star-Protagonisten treten aus dem deutschesten aller Welt-Dramen überhaupt hinaus in die Blackbox des Bochumer Prinz Regent Theaters, hinaus auch aus der Jahrzehnte alten Schwüle der Frauenverachtung hinein in die allerdings Gründgens-Weiß geschminkte Zeit-Ort-Gender-Neutralität. Hans Dreher, der das kleine Privattheater im letzten Jahr übernommen hat und nun seine erste Spielzeit gleich mit Faust beginnt, hat das Stück nicht nur geschickt gestrichen, sondern auch von viel theatralischem Ballast befreit. Vier großartige Schauspieler*innen teilen sich den Textberg auf einer fast leeren Bühne. Wie wichtig die Visualisierung für das Publikum ist, kann man bereits beim „Vorspiel auf dem Theater“ beobachten, das von drei historischen Playmobil-Figürchen in einem Zelt vor dem Theater intoniert wird. Nun ja, die Szenerie hinterm Busch kommt vielen eher spanisch vor, doch den Text voller Megazitate fürs elitäre Simsen will die bunte Menge, bei deren Anblick dem Dichter sicher der Geist entflieht (kein Wunder), wohl lieber nicht genießen.
Also wieder zurück zu Maximilian Strestik als Faust im nächtlichen Studierzimmer, der pathosfrei die altenbekannten Zeilen rezitiert, ja der Faust war nie Studienabbrecher, der führte seine Studenten an der Nase herum. Und Wagner (Laura Thomas mit megagroßem Nebenrollen-Kino) gleich auf den durch eine digitale Scherenschnittwelt (Patrick Praschma) ermöglichten Osterspaziergang und in die Fänge des Pudels, dessen Kern natürlich Mephistopheles ist. Den setzt Oliver Möller sehr lässig (auch mal mit Cocktailjacke) und ohne aufgesetzte Mimik dem Faust entgegen. Puh. Vom Himmel und seinen säuselnden Engelsscharen keine Spur, Gott spielt hier bis zum Ende (kommt noch) nicht mit und das ist von der Regie sehr stringent durchgehalten.
Der mächtige Geist, der stets verneint, versus den armseligen Menschen, das ist das eigentliche Thema. Und der gefühlsbetonte Höllenritt Gretchens natürlich, die in dieser Inszenierung schon beim ersten Auftritt auf der Straße – nach Auerbachs Keller, den Laura Thomas ganz alleine aufmischt – mit Lady Gaga-Perücke anzeigt, wo es langgeht. Hier wird kein halbes Kind mit Zöpfen in den Wahnsinn getrieben, hier scheitert eine erwachsene Frau (super: Nele Sommer) grandios durch ihre eigene Entscheidung, diesen in der Hexenküche gedopten Süßholzraspler in ihr Schlafgemach mit Klavier zu lassen. Eine Nacht, die nicht nur Mutter und Bruder Valentin umbringt, sondern auch für das jetzt schwangere Gretchen und später fürs Neugeborene sehr ungesund wird. Aus Lady Gaga wird nun die allein gelassene Grete, die dem Wahnsinn verfällt, während der Besserwisser sich in der Walpurgisnacht vergnügt. Dreher inszeniert einen sehr gradlinigen Abend, der das wilde Heer von Hexen und Geistern nicht braucht, um den wirklich stillen Wahnsinn hinter der Tragödie zu beleuchten.
Am Schluss sitzt die Mutter- und Kindesmörderin im Kerker und will sich nicht retten lassen. Im Hintergrund ein Marienaltar. Margarethe steht für ihre Taten ein. Gram über ihre Dummheit und immer noch Gefühle für den Mörder, der eigentlich wieder nur sich selbst retten will. Von hier ins ewige Ruhebett und weiter keinen Schritt, das ist Haltung vor der Gerechtigkeit. Kein „Ist gerettet“ aus den Wolken. Sehr schön, denn eine himmlische Rettung braucht Grete in dieser Inszenierung wirklich nicht.
„Faust“ | R: Hans Dreher | 1.11., 11.12., 12.12. je 19.30 Uhr, 3.11., 8.12. 18 Uhr | Prinz Regent Theater Bochum | 0234 77 11 17
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
„Wir brauchen sichere, offene Orte“
Ab der Spielzeit 2025/26 leitet Dramaturgin Sabine Reich das Prinz Regent Theater in Bochum – Premiere 08/25
Ein zeitloser Albtraum
Franz Kafkas „Der Prozess“ im Bochumer Prinz Regent Theater – Prolog 12/24
„Was heißt eigentlich Happy End heute?“
Alexander Vaassen inszeniert „How to date a feminist“ in Bochum – Premiere 05/23
Lug und Trug und göttliche Rettung
„Onkel Wanja“, „Orestes“ und „Dantons Tod“ – Prolog 03/23
Widerstand ist immer machbar
Januar-Programm der Freien Theater im Ruhrgebiet – Prolog 01/23
The Return of Tragedy
Theater im Ruhrgebiet eröffnen die neue Spielzeit – Prolog 09/22
„Wir müssen in der Lage sein zu spielen“
Hans Dreher vom Prinz Regent Theater über die Arbeit während Corona – Premiere 08/20
2 Stunden, 2 Spieler, 2 Stücke
Neue Dramatik im Prinz Regent Theater – Bühne 04/20
Lumpi gegen den Perfektionswahn
„Ein hündisches Herz“ im Bochumer Prinz Regent Theater – Bühne 05/19
Archäologie eines Songs
Thomas Meinecke über „Cherchez la femme“ am 26.6. im Prinz-Regent-Theater Bochum – Musik 07/18
Der Feind im Kopf
„Extremophil“ im Prinz-Regent-Theater Bochum – Theater Ruhr 05/18
Die eine kommt, die andere geht
In Neuss und Bochum wechseln die Intendantinnen – Theater in NRW 04/18
„Es geht auch um Fake News“
Regisseurin Lola Fuchs über „Der zerbrochene Krug“ am Schauspielhaus Dortmund – Premiere 09/25
„Kreativität entsteht manchmal aus Reduktion“
Marc L. Vogler über seine Arbeit als Hauskomponist der Jungen Oper Dortmund – Interview 09/25
Ein Fake für den Nobelpreis
„Der Fall McNeal“ in Düsseldorf – Prolog 08/25
Im Körper graben
„Every-body-knows…“ auf PACT Zollverein – Tanz an der Ruhr 08/25
Supernova oder Weltfrieden
„GenZ, weine nicht“ bei der Jungen Triennale in Bochum – Prolog 08/25
Schnöde Technik oder Magie?
„Oracle“ bei der Ruhrtriennale – Prolog 07/25
„Eine Welt, die aus den Fugen ist“
Kulturamtsleiter Benjamin Reissenberger über das Festival Shakespeare Inside Out in Neuss – Premiere 07/25
Der verhüllte Picasso
„Lamentos“ am Opernhaus Dortmund – Tanz an der Ruhr 07/25
Von Shakespeare bis Biene Maja
Sommertheater in NRW – Prolog 06/25
Tanz als Protest
„Borda“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 06/25
„Das Publikum ist verjüngt und vielfältig“
Opernintendant Heribert Germeshausen zum Wagner-Kosmos in Dortmund – Interview 06/25
„Da werden auch die großen Fragen der Welt gestellt“
Kirstin Hess vom Jungen Schauspiel Düsseldorf über das 41. Westwind Festival – Premiere 06/25