Iphigenie freut sich. „Wir fahren nach Aulis. Zu Papa.“ So locker geht es los auf der großen Bühne in Bochum, so locker steigen wir ein in die Kriegstreiberei der Griechen, die wegen eines Frauenraubes das monströse Schlachten beginnen wollen – und trotz im Hafen bereit liegender Flotte nicht können. Blöd, kein Wind, kein Hauch und auch noch kein Fluch. Noch – denn Agamemnon duckt sich bereits unter sein Heer, das endlich gegen Troja ziehen will und ein Opfer fordert, das die Götter wohl als Preis für günstige Luftströmungen gefordert haben. Dušan David Pařízek inszeniert Euripides’ „Iphigenie“ und dopt den Text geschickt mit Elfriede Jelineks Sport(hosen)stück über die Verbindung von Leibesübung und Kriegsgeschrei. Es ist also ein Stück von einem Stück in einem Stück. Genial. Weil sich tatsächlich auch zahllose Gemeinsamkeiten auftun.
Die Entschlussfindung des Abends, ob der Herrscher seine eigene Tochter opfern darf, findet halbwegs genderfair auf der Bühne statt, man könnte auch sagen, die Glatzen machen jetzt Kultur, doch beschränkt sich Pařízek nicht nur auf die Haarlosigkeit, er doppelt auch Rollen und tauscht Geschlechter, wodurch der teuflische Zwiespalt, in dem alle stecken, noch erhöht wird. Alles wechselt, alles wehrt sich, lehnt sich auf gegen die endgültige Kausalität für eine Person, selbst wenn die Hymnenmuse mit der Leier (Bernd Rademacher grandios mit Rock) bei all den griechischen Namen und mythologischen Verstrickungen mal köstlich den Faden verliert (Kataklothes kommen nicht vor) und von Erato und Kalliope (Konstantin Bühler und Lukas von der Lühe auch perfekt in Frauenkleidern) wird doch ein interessantes Textexperiment zwischen Euripides und Jelinek vor und auf einer mächtigen Bühnen-Drehwand offenbar. Apropos Papa. Iphigenie (Svetlana Belesova, auch Onkel Menelaos) reist mit der Mutter (Jele Brückner, auch Gatte Agamemnon) in Aulis an, um den Muskelproll Achill (köstlich: Anne Rietmeijer) zu ehelichen, der selbst nichts davon weiß, weil die Heirat ja nur Vorwand für eine Anreise überhaupt war.
Spätestens wenn Iphigenie die Wahrheit erkennt, beginnt eine Auseinandersetzung um die unterschiedlichen Deutungshoheiten über das Orakel, beginnt das Weibliche langsam aber sicher die Oberhand bis hin zur Selbstbestimmung – sie kann ja nicht wissen, dass sie von Göttin Artemis gerettet werden wird. Sie nimmt also diesen Kriegstreibern das Heft zum Handeln aus der Hand und Agamemnon steht nun da, als habe er erst kein Glück, und dann sei auch noch das Pech dazu gekommen. Das Opfer an sich verliert dadurch völlig seine eigentliche Bedeutung, die Inszenierung zeigt, wie die Mechanismen zur Rechtfertigung von Krieg als Politikmittel und auch sinnloser Gewalt gleich geblieben sind – in Kasernen, aber auch auf den Tribünen der Sportstadien. Die Figuren bewegen sich dafür durch den ganzen Zuschauerraum, die Bühne bleibt jenseits der Wand gigantisch leer, Licht und Schatten reichen der Regie für schwarze und weiße Wortmalereien aus wechselnden Jahrhunderten, bis die Glatzen reißen und den Figuren neue Symbolkraft geben. Blut muss noch fließen, damit sich der Fluch der Tantaliden ordentlich erfüllt, die Wand hat sich da längst zum Spiegel gedreht und zeigt die Reihen voller Sportbegeisterten.
„Iphigenie“ | R: Dušan David Pařízek | 19., 21. je 19 Uhr, 23., 26.4. je 19.30 Uhr, 28.4. 17 Uhr | Schauspielhaus Bochum | www.schauspielhausbochum.de
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