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Der Elefantenmensch John Merrick (Uwe Rohbeck) fein gemacht für die feine Gesellschaft
©Edi Szekely

Der Voyeur im Spiegel des Kapitalismus

19. Dezember 2013

Jörg Buttgereit inszeniert Bernard Pomerances „Elefantenmenschen“ im Dortmunder Studio – Auftritt 01/14

Am Anfang hat es schon ein wenig von Roncalli. Die Zirkuscrew im roten Livree leitet die Zuschauer in die Manege des Dortmunder Theaters. Wunderliches, Absurdes wollen sie sehen – den Elefantenmenschen. Jörg Buttgereit, Arthouse-Horrorfilmer und Spezialist für die Absonderlichkeiten menschlicher Existenzen inszeniert im intimen Studio Bernard Pomerances 1979 uraufgeführtes und mit dem Tony-Award ausgezeichnetes Broadway-Stück über den "Elefantenmenschen" John Merrick (1862-1890). Während des Viktorianischen Zeitalters war der mit schweren Deformationen auf die Welt gekommen, bestritt freiwillig seinen Lebensunterhalt als „Monster“ auf den Jahrmärkten.

Merrick wird herein geschoben. Er sitzt in einer Badewanne, sieht furchterregend aus, aber doch irgendwie auch sympathisch. Dr. Frederick Treves (Frank Genser), aufstrebender Arzt im aufstrebenden London, mit neuer gut dotierter Stellung am renommierten Krankenheim, mit neuem Haus und guten Manieren inspiziert seinen Patienten, der für die Institution und seine Karriere ungeahnte Möglichkeiten bietet. Merrick ist von der einen in die andere Abhängigkeit befördert worden. Geblieben ist er eine Kapitalanlage, nur die Verhältnisse haben sich geändert. Im guten Brechtschen Sinn: „Wir wären gut, anstatt so roh, doch die Verhältnisse, die sind nicht so“, also bleibt die Rohheit, die sich vom körperlichen in das Seelische verlagerte. Treves hat sein Forschungsobjekt, Merrick eine angenehmere Umgebung, ein Gefangener seines Körpers, in jeder Hinsicht, ein Jahrmarkt der Eitelkeiten, nur die Gaffer sind jetzt andere. „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“. Mit Psalm 23 wird klar, der Elefantenmensch kann sprechen und ist beileibe nicht auf den Kopf gefallen, der so groß ist, das er ersticken würde, wenn er sich zum schlafen in ein Bett legen würde. Aber auch dafür hat Merrick eine Erklärung: „Mein Kopf ist so groß, weil er voller Träume ist.“ Buttgereit inszeniert sein erstes Theaterstück, wie könnte es anders sein, mit vielen Filmzitaten, mit Witz und grandiosen Regieeinfällen, allein die Zeit bis zum ersten Auftritt von Uwe Rohbeck als John Merrick zelebriert er als Schreckenskabinett: jedes Mal wenn der Vorhang, hinter dem der Elefantenmensch wohl verborgen ist, aufgerissen wird, schreckt man unwillkürlich zusammen, doch erst beim zigsten Mal kommt er tatsächlich herein gerollt.

Rohbeck hat in seinem Latex-Anzug nicht viele mimischen Möglichkeiten, nur ein Arm und ein Auge sind zu sehen, er arbeitet mit langsamen Bewegungen und seiner Stimme, die Befindlichkeit und Willen ausdrückt, Freude und Trauer. Die Mobilität von Merrick steigt ständig, er juchzt wenn er den Stock gebrauchen kann, er stöhnt, wenn der Bischof ihn penetriert und er zittert, wenn seine Liebe Mrs Kendall im Raum ist. Sie ist es auch, die ihm als einzige aufrichtig begegnet. Luise Heyer spielt großartig eine Schauspielerin, die den Krüppel versteht, der ja nicht krank ist, die mit ihm tiefgründige Gespräche führt und sich für ihn sogar auszieht. Mit ihr spielt Merrick die finale und entscheidende Liebes-Szene aus "Romeo und Julia", und entlarvt fragend die scheinbare Oberflächlichkeit und den eigentlichen Egoismus des jugendlichen Shakespeare-Liebhabers. Buttgereit geht hier eigene Wege. Anders als beispielweise Todd Browning, der in seinem Klassiker "Freaks", genüsslich die hinterhältigen Fratzen der so genannten Normalbürger entlarvt, zitiert der Horrorfilmer lieber David Laynch und dessen Hollywood-Streifen, der auch im Zirkus spielt und eine ähnliche Dramaturgie besitzt.

In Dortmund kann Treves Merrick schnell in die feine Gesellschaft einführen, er trägt jetzt Anzughose, Weste und Binder, doch auch die gekrönten Häupter sehen nur die Jahrmarkt-Attraktion. Für Merrick bleibt diese Anteilnahme eine „Illusion von Familie“. Wenn die Barmherzigkeit so grausam ist, wie ist dann erst die Gerechtigkeit, fragt er nachdenklich, hinterfragt die Regeln nach denen er leben muss. Er sei kein Tier, sondern ein Mensch. Der Entzug von Mrs Kendall trifft ihn schwer. Frank Genser macht mit seiner Figur Dr. Frederick Treves eine Kehrtwende, die allerdings zu spät kommt, der körperliche Verfall lässt sich nicht mehr aufhalten. Treves hat Mrs Kendall ausgesperrt, weil er nicht möchte, dass sie da ist, wenn Merrick stirbt. „Ich bin ein Mann“ ist die finale Aussage, dann steigt Uwe Rohbeck verschwitzt aus dem Kostüm, streift den Elefantenmenschen ab, Merrick hätte das sicher gefallen. Was bleibt ist das Voyeuristische im Kapitalismus, in dem sich alle irgendwie ausbeuten lassen, nur um zu vegetieren. Aber das wussten wir ja bereits. Jörg Buttgereit hat nach „Sexmonster“ und „Kannibale und Liebe“ (da war Robeck der Serienkiller Ed Gein) jedenfalls die dritte sehenswerte Inszenierung am Dortmunder Theater abgeliefert.

„Elefantenmensch“ | So 12.1. 18 Uhr | Studio, Theater Dortmund | 0231 502 72 22

PETER ORTMANN

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