Es ist erst wenige Wochen her, dass Hot Water Music auf einer Doppel-Headliner-Tour mit Boysetsfire die Bühnen Deutschlands unsicher gemacht haben. Die Tour der beiden legendären Post-Hardcore-/Emo-Bands aus den Staaten war – wie so viele – schon 2020 auf dem Plan, jetzt war es endlich soweit. Das NRW-Konzert wurde aus der Dortmunder Warsteiner Music Hall, die zwei Corona-Jahre nicht überlebt hat, in den Bochumer Ruhr Congress verlegt. Während die übrigen Bandmitglieder von Hot Water Music sicherlich schon wieder zuhause in den USA sind, tauscht Sänger Chuck Ragan die elektrische Gitarre gegen die akustische und hängt gemeinsam mit Geiger Jon Gaunt noch ein paar Solo-Termine an. Das Oberhausener Zentrum Altenberg ist sehr gut gefüllt – was in der aktuellen Situation gar nicht selbstverständlich ist – und der Weg zur Halle wird den Zuschauern zudem nicht leicht gemacht, denn im LWL-Museum Zinkfabrik Altenberg werden zurzeit umfangreiche Renovierungsarbeiten durchgeführt. So wird der Pfad zur Veranstaltungshalle zu einem wilden (und vor allem unausgeschilderten) Parcours entlang Bauzäunen und -gerüsten.
Für die Solo-Tour hat Chuck Ragan einen deutschen Freund als Support eingeladen: Matze Rossi, ehemals Sänger der Punk-Rock-Band Tagtraum, ist schon seit einigen Jahren als Singer/Songwriter unterwegs – auch schon öfter gemeinsam mit Chuck Ragan. Als er die Bühne betritt, gibt es im vorderen Hallendrittel noch ein paar lichte Stellen im Publikum, doch man merkt schnell, dass die Leute vor der Bühne textsicher und sangesfreudig sind. Matze muss gar nicht zum Mitsingen auffordern, da schallt ihm schon ein kräftiges „Hey!“ an der richtigen Stelle entgegen, was er mit breitem Grinsen quittiert. Der Schwerpunkt seines Sets liegt auf Songs des letzten Albums „Wofür schlägt dein Herz“. In „Stadtflucht“ thematisiert er den Umzug auf’s Land und seinen Hunden hat er mit „Du weißt immer wie spät es ist“ ein Liebeslied gewidmet („jetztjetztjetztjetzt!“). Von seinen älteren Songs spielt er den „Beerdigungssong“ „Wenn ich mal…“ und den Abschluss bildet schon traditionell „Best Friends“.
Falls jemand die Stimme von Matze Rossi als rau und kratzig empfunden haben sollte, wird dieser Eindruck relativiert, als Chuck Ragan die Bühne entert. Chucks Stimme ist unglaublich. Sie klingt, als hätte jemand Bruce Springsteen die Stimmbänder von Lemmy Kilmister eingepflanzt – ohne Narkose. Während Hot Water Music mit harten Gitarrenriffs zum Crowdsurfen einladen, frönt Chuck Ragan solo einer Melange aus Folk und Americana. Von daher ist der Springsteen-Vergleich gar nicht zu weit hergeholt, auch wenn Ragan weniger ein Geschichtenerzähler ist als der Boss. Kraftvoll aufstampfend gibt er den Takt vor, lässt die Bühne beben, da hält sich der Punk unter dem Folksound nicht zurück. Jon Gaunt, mit dem Ragan unter anderem bei dem All-Star-Bandprojekt The Revial Tour bereits zusammenarbeitete, lässt dazu den Bogen filigran über die Geigenseiten flitzen. Die Geige übernimmt mal Soloparts, mal gibt sie die zweite Stimme zu Ragans Vocals – quasi im Dialog. Die beiden Musiker sind gut aufgelegt, obwohl es in hinteren Bereich der Halle offenbar Leute mit viel Gesprächsbedarf gibt, die statt ihrer Stammkneipe ein Konzert zum ausgiebigen Klönen ausgewählt haben. „Meet You in the Middle“ und natürlich „The Boat“ zählen zu den Highligts des Gigs, der von den Fans gefeiert wird. Trotz des anhaltenden Jubels kehren die beiden Musiker weder für eine Zugabe noch für eine letzte Verbeugung auf die Bühne zurück – was am Ende eines ansonsten großartigen Abends ein etwas zwiespältiges Gefühl hinterlässt.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Der Doktor im Hexenkessel
De Staat im Resonanzwerk Oberhausen – Musik 11/22
Jazz als Lernprozess
Quartabê im Dortmunder domicil – Musik 09/23
Gitarrengewitter im Landschaftspark
Anna Calvi bei der Ruhrtriennale – Musik 08/23
Brachial und nahbar
Brasilianische Band Sepultura in Zeche Bochum – Musik 08/23
16 Stunden Tech-House
Kittball Day & Night Festival in Dortmund – Festival 08/23
Dancing at the Canal in the Dark
Fury in the Slaughterhouse mit neuem Album in Gelsenkirchen – Musik 08/23
Junges Line-Up
Juicy Beats-Festival in Dortmund – Festival 07/23
Parolen und Pop-Prominenz
Bochum Total am zweiten Juli-Wochenende – Festival 07/23
Alte Seele
Celeste im Dortmunder Junkyard – Musik 06/23
„Ich setze dem Leben die Krone auf“
Rock-Musiker Kaiser Franz über seine Musik, Reue und eine Abrechnung mit sich selbst – Interview 06/23
Von Slam bis Dungeon-Synth
Vielfältiger Bobiennale-Ausklang – Festival 05/23
Folktronica aus Island
Ásgeir in der Essener Zeche Carl – Musik 05/23
Folksongs mit Flamenco-Gitarre
Charlie Cunningham im Konzerthaus Dortmund – Musik 04/23
„Da muss mehr Moll rein!“
Rabengott sprechen über ihre Musik und die Gothic-Szene – Interview 04/23
Den Mond aus Bochum betrachtet
Auf Nostalgietrip mit The Waterboys in Bochum – Musik 03/23
Energiegeladene Höhenflüge
Jim & The Shrimps in Dortmund – Musik 03/23
„Die Punks bissen an“
Helmut Philipps über sein Buch „Dub Konferenz“ – Interview 03/23
Die Kraft der Solidarität erkennen
„Ein Abend für Fasia Jansen“ in Oberhausen – Musik 01/23
Don't Stop Believin'
Heather Nova akustisch in Altenessen – Musik 11/22
Schüttel dein schütteres Haar
Deep Purple in Oberhausen – Musik 11/22
Tragisch? Komisch?
Tage Alter Musik in Herne – Festival 11/22
„Wir sind nicht lebensverneinend, im Gegenteil“
Long Distance Calling über ihr neues Album „Eraser“ – Interview 09/22
Bitte jetzt alles auf einmal!
Die Live-Rückkehr von Selig in Essen und Bochum – Musik 08/22
The Priest is back!
Heavy-Metal-Veteranen Judas Priest in Oberhausen – Musik 08/22