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Auf der Hebebühne: Caspar Brötzmann soliert in 30 Metern Höhe
Foto: Kurt Rade

Gegen die Stille

17. Juni 2025

Das 54. Moers-Festival – Musik 06/25

Als Caspar Brötzmann mit seiner Band Massaker am Pfingstmontag das 54. Moers-Festival laut und kraftvoll beendet, klingt dies wie die Antithese zum diesjährigen Festivalmotto: „Stille“. Brötzmanns krachender Auftritt kann und soll als Weckruf und Warnung zugleich verstanden werden: Lasst die Musik nicht verstummen. Der Hintergrund: Im Festivaldorf waren Stelen aufgestellt, auf denen die Namen von mehreren Dutzend Festivals und Clubs aufgelistet wurden, die mangels finanzieller Unterstützung abgewickelt sind oder deren Existenz bedroht ist. Angesichts unsicherer Förderungszusagen dürfte die Liste bald länger werden.

In Moers ist man (noch) nicht so weit, im Gegenteil: Die Ticketverkäufe stiegen von 1.200 im Vorjahr auf mehr als 2.000 – auch dank flexibler Preise zwischen 40 und 300 Euro. Der Zuwachs zeigt, dass auch die Künste abseits des Mainstreams ihre Berechtigung haben. Vier Tage Musik mit mehr als einhundert Konzerten, begleitet von Diskussionspanels, begeisterten die Moers-Community. Die Besucher:innen sahen und hörten einen Querschnitt zeitgenössischer Musik, der die Grenzen sprengt und sich immer schwerer in Genres einsortieren lässt: Jazz, Funk, Hardcore, Neue Musik, freie Improvisation – die Liste ließe sich beliebig erweitern.

Zum Auftakt wartet in der Festivalhalle ein besonderes Erlebnis. Multiple Voices präsentierten ein siebenstündiges Konzert für zwei Stimmen. Countertenor Terry Wey und Bariton Ulfried Staber verfügen über einen Stimmumfang von dreieinhalb Oktaven. Gemeinsam bringen das Werk „Spem in Alium“ von Thomas Tallis aus dem Jahr 1570 auf die Bühne. Im Mittelpunkt des Projekts steht der Versuch, das Werk so zu interpretieren, dass das Publikum den Kompositionsprozess live verfolgen kann. Die 42 Stimmen werden einzeln gesungen und über Lautsprecher im Raum verteilt – eine Herausforderung für Musiker und Publikum, die mit einem heftigen Schlussapplaus kurz vor Mitternacht endet.

Genuss ohne Grenzen

Die Festivalhalle ist seit jeher der Ort, an dem die aufwendigeren Produktionen stattfinden. Der japanische Komponist Koshiro Hino bringt gleich mehrere perkussive Stücke auf die Bühne: „Chronograffiti“ ist eine Auftragskomposition des Festivals. Tsuyoshi Maede, Kanna Taniguchi, Tomo Ando (alle Percussion) und Ken Furudate (Visuals) spielen ein sehr dichtes Konzert, das die verschiedenen Facetten der Rhythmik abbildet. Dynamik, Tempo und Lautstärke variierten ständig. Noch intensiver klingt das Stück „SO-TEN-I“. Ken Furudate, Masayoshi Fujita und Kanna Taniguchi an den verschiedenen Schlaginstrumenten zeigen die komplette Bandbreite, von minimalistisch reduzierten Klängen bis hin zu Soli, die an Hochleistungssport erinnern. 

Vijay Iyer und Wadada Leo Smith spielen ein wunderbar leichtes, beinahe kontemplatives Konzert. Iyer entlockt seinem Fender Rhodes zum Teil sphärische Klänge, schafft es aber auch, locker und leicht zu swingen. Der 83-jährige Smith, der zuletzt 1979 in Moers aufgetreten war, nimmt sich oft zurück, veredelt die Patterns aber immer wieder mit verträumten Tönen auf seiner Trompete. Ein Genuss.

Hinter den Erwartungen zurück bleibt dagegen der Auftritt von Hayden Chisholm’s Kinetic Chain. Das Quartett um Chisholm (sax), Achim Kaufman (p), Petter Eldh (b) und Jonas Burgwinkel (dr) zeigt sich in dem mehr als eine Stunde dauernden Konzert zwar auf musikalisch höchstem Niveau: Die Interaktion funktioniert, die Übergänge sind präzise, doch es kommt nur allzu selten Begeisterung auf. Am Ende ist es eine etwas zu seichte Angelegenheit, melodisch mitunter naiv und auch angesichts zahlreicher Wiederholungen eher einschläfernd. Da war mehr möglich.

Die Halle bietet auch Raum für Diskussionen. Die Resonanz ist groß, die Themen sind ernst. Ein Panel drehte sich um Antisemitismus im Kulturbetrieb. „Das Moers-Festival ist in der Tradition des ‚Nie wieder‘ entstanden – einer Haltung, die nach dem deutschen Faschismus notwendig war. Und ‚Nie wieder‘ heißt immer auch: nie wieder Antisemitismus“, hieß es in der Ankündigung. Nikolas Lelle von der Amadeu-Antonio-Stiftung und Katja Lucker, Geschäftsführerin der Initiative Musik, berichten davon, dass antisemitische Äußerungen und Boykottaufrufe etwa aus dem Umfeld des BDS erheblich zugenommen hätten, die Veranstalter:innen aber oftmals hilflos agierten, da sie auch von der Politik allein gelassen würden. Leider bleiben angesichts einer anberaumten Zeit von knapp 45 Minuten viele Fragen offen.

Auch in diesem Jahr gibt es musikalische und geographische Schwerpunkte: Mit dem britischen Huddersfield Contemporary Music Festival wurde eine dreijährige Kooperation gestartet, in der die Annäherung zwischen Neuer und frei improvisierter Musik im Fokus stehen soll. Am Freitagabend wird dies in der evangelischen Stadtkirche bereits erfolgreich demonstriert: Charlotte Keeffe an der Trompete und Ashley John Long am Bass zelebrieren wunderbare Miniaturen zwischen Interpretation und Improvisation. 

In der Festivalhalle konnte das Workshop-Konzert „X perimental N counters“ bewundert werden. Es ist das Resultat eines mehrtägigen „Workshops“ für den aus 50 Bewerber:innen fünf Nachwuchsmusiker:innen ausgewählt wurden. Verena Barié (rec, elec), Adrian Thieß (tp, elec), Aaron Rosenow (dr), Caroline Schnabel (voc, elec), Angharad Davies (ltg, v) spielen ein kurzes, 30-minütiges Konzert, das sich beinahe intuitiv vom Geräusch zum Rauschen entwickelte und von der spontanen Interaktion lebte. Erinnerungen an die Projekte wurden wach, die es unter der Leitung von Burkhard Hennen gab, der das Festival von seinen Anfängen im Jahr 1972 an über dreißig Jahre leitete. 

Geographischer Schwerpunkt war China. Erstmals reiste eine Delegation von zehn Musiker:innen aus der Volksrepublik nach Moers. Sie zeigen, dass es in Asien, das oft vor allem durch japanische Künstler:innen repräsentiert wird, auch andere, überaus spannende Szenen gibt. Highlight ist der Auftritt des Gitarristen und Bassisten Mamer, der, unterstützt von zahlreichen Effekten, ein sehr durchdringendes Konzert spielt, das selbst das Zwerchfell zum Vibrieren bringt. 

Open Air „Unter Bäumen“ 

Neben der Festivalhalle gibt es mit der Open Air-Bühne „Unter Bäumen“ einen zweiten, zentralen Spielort, der in diesem Jahr den Rodelberg abgelöst hat. Trotz des zum Teil sehr ungemütlichen Wetters hat sich der Ort bewährt. Bis zu 800 Leute lauschen hier täglich der Musik. Vor allem die Sessions, die seit jeher das Herzstück des Festivals sind, haben hier ihren festen Ort. Seit Jahren werden sie von Jan Klare kuratiert, dem Mastermind der Ruhrgebiets-Combo The Dorf. Er schafft es, Musiker:innen auf die Bühne zu bringen, die vorher – zumindest in den Konstellationen – nie gemeinsam aufgetreten sind. Li Daiguo (vc, elec), Jun-Y Ciao (sax, objects), Elisabeth Coudoux (vc) und Andy Hafner (dr) stehen beispielhaft für die vielen Dutzend Musiker:innen, die sich spontan dort treffen. Sie spielen ein kurzes, 20-minütiges Set, das nur so von Energie strotzt und keine Längen hat. Tan Shuoxin (laptop), Matthias Kaiser (v) und Meinrad Kneer (b) am Vibraphon bilden am Montag den Kontrapunkt. Ein ruhiges, sehr konzentriertes Konzert, begleitet vom Rauschen der Bäume. Ambient Musik im ursprünglichen Sinne. Beide Konzerte zeigen die Bandbreite der freien Improvisation, die nicht immer laut und wild daherkommen muss.

Einen komplett freien Ansatz wählt auch die Gruppe „The Circle“ des Schlagzeugers Willi Kellers. Free Jazz ist die Basis für einen hochenergetischen und dabei stets kommunikativen Auftritt. Hans-Peter Hiby an den Saxofonen, Rieko Okuda am Klavier und Meinrad Kneer am Bass schaffen es gemeinsam mit Kellers das Publikum derart zu begeistern, dass ihnen sogar eine der seltenen Zugaben gewährt wird. Die Noise- und Hardcore-Band Holy Scum hat dem anschließend krachige Gitarren und eine Rhythmusgruppe entgegenzusetzen, die das Publikum zum Tanzen anregt. Selbst die Jazzpolizei applaudiert. Auch das ist Moers.

Zu den beiden Hauptbühnen gesellen sich zahlreiche Nebenspielplätze. Diese reichen von der bereits erwähnten Dorfkirche, über die Kneipe Die Röhre, die als Wiege des Festivals gilt, bis hin zu den Mikrobühnen im Friseursalon, im Café oder im Büro des Bürgermeisters. Auch hier heißt es: Improvisation ohne Grenzen. 

Doch nicht alles findet Zustimmung. Während die neue Bühne „Unter Bäumen“ ein atmosphärisches Upgrade darstellt und trotz des miesen Wetters sehr gut angenommen wird, wirkt das Festivaldorf auf dem riesigen, renovierten Betonparkplatz (ohne Bäume) reichlich verloren. Hier will keine Festivalstimmung aufkommen, es sei denn, man wird von den Konzerten „Über’m Platz“ kurz abgelenkt. Caspar Brötzmann oder BlipVert spielen auf einer Hebebühne in 30 Metern Höhe krachige Solo-Konzerte. Der Sound wird über drei auf dem Gelände verteilte Boxen transportiert. Ein Erlebnis, das allerdings nur 20 Minuten dauert und die Zuschauer:innen anschließend wieder in die Betonwüste entlässt. Hier sollte man in Zukunft darüber nachdenken, ein Ambiente zu schaffen, das der bunten Festivalstimmung gerecht wird und sie nicht konterkariert.

Moers hat dennoch auch bei seiner 54. Auflage gezeigt, dass es zu den spannendsten und vielseitigsten Festivals in Deutschland gehört – wenn nicht sogar in Europa. Auf dass viele weitere folgen mögen.

Holger Pauler

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