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Jazz-Legende Ornette Coleman beim Abschlusskonzert des 40. Moers Festival
Fotos: Oliver Hanisch

„Der Kulturbereich hat keine Lobby“

23. Februar 2012

Reiner Michalke, Künstlerischer Leiter des Moers Festival, über kommunale Nöte und musikalische Highlights - Musik in NRW 03/12

Letztes Jahr feierte das international renommierte Moers Festival seinen 40. Geburtstag. Selbst Jazz-Legenden wie Ornette Coleman waren am Rhein zu Besuch. Doch im Angesicht der viel besagten klammen Kassen ist auch eine Institution wie das Festival für avantgardistische Jazz-Musik nicht vor existenzbedrohlichen Kürzungen gefeit. trailer sprach mit dem künstlerischen Leiter Reiner Michalke.

trailer: Herr Michalke, auf dem neuen Plakatfestival präsentiert sich das Moers Festival wieder mit vier Tagen. Stehen die Zeichen dafür diesmal günstig?
Reiner Michalke:
Wir werden das, was wir im letzten Jahr geplant haben, in diesem Jahr umsetzen, nämlich drei reguläre Festivaltage. Am vierten Tag werden wir den Heimatabend mit Helge Schneider machen, so ist die Planung und wir sind guter Dinge, dass das auch so kommen wird.

Sie wurden in einer Zeitung sinngemäß mit der These zitiert, dass eine Neo-Nazi-Zelle wie in Zwickau nicht entsteht, wenn es kulturelle Fixpunkte wie das Moerser Festival gibt.
Das war ein Interview, in dem ich die These gewagt habe, dass, wenn Zwickau über eine Kulturlandschaft wie Moers verfügte, keine rechten Neonazi-Zellen dort existierten. Kunst und Kultur sind ein wichtiger Faktor, um sich gerade mit Fragen wie Toleranz und Fremdenfreundlichkeit auseinanderzusetzen. Sie sind ein Vehikel, um sich als Gesellschaft zu finden, aber auch um zu streiten. Streitkultur ist wichtig! Nicht allein um des Streitens Willen, sondern für das Ringen um unterschiedliche Positionen, ohne das es keine Veränderung, keinen Fortschritt gäbe. Und als Kultur ist das ein ganz großer Faktor, der die Menschen in der Regel zu anderen Ergebnissen führt als wenn sie kulturlos, oder kulturfern aufwachsen würden.

Überraschungs-Stargast im letzten Jahr: Free-Jazz-Pionier Ornette Coleman


Also sehen Sie Kultur als Kommunikationsmittel zwischen einzelnen gesellschaftlichen Gruppen, die so nicht in den Dialog treten würden?
Das trifft für das Moers Festival besonders zu, weil es auch innerhalb der Kulturlandschaft eine Position der Avantgarde und damit auch der Provokation und der Außenseite einnimmt. Es bildet nicht den Mainstream der Kultur ab, sondern bezieht selbst Stellung und löst damit selbstverständlich auch Widersprüche aus. In Moers ist es gelungen, seit jetzt schon über 40 Jahren dieses sehr abenteuerlustige Festival in der Stadtgesellschaft zu verankern.

Glauben Sie, dass es in manchen Stadträten den Gedanken gibt, Kultur-, Sozial- und Bildungsausgaben gegeneinander auszuspielen, so dass man sagen könnte, der Verzicht auf einen dieser Bereiche wäre nötig, um den Stadthaushalt durchzubringen?
Die Hauptlast im kulturellen Bereich wird von den Kommunen getragen. Über 80% der Kulturfinanzen kommen aus den Kommunen, werden also nicht vom Land oder vom Bund finanziert. Jetzt entwickeln sich aber die Budgets immer mehr so, dass die Kommunen gerade bei den sozialen Ausgaben, die sie tragen müssen, überproportional belastet werden, gleichzeitig ihre Einnahmen aber kaum erhöhen können. Die Folge ist, dass die Schere immer größer wird. Dieser Zustand ist kaum mehr zu rechtfertigen. Es ist nun Sache des Landes und des Bundes, hier einen Ausgleich zu schaffen. Sie haben die gesetzgeberische Kraft dazu. Kommunen verfügen über keine Legislative. Da sind Bund und Länder gefragt, die Kommunen dauerhafter zu entlasten. Das ist schon lange im Gespräch, aber es hat noch keine signifikanten Veränderungen gegeben. Innerhalb der Kultur betrifft es nur die Sachen, die nicht institutionell sind. Das heißt bei der Oper steht nicht die Oper mit ihrem ganzen Personalapparat zur Disposition, sondern nur das freie Budget, mit dem der jeweilige Opernintendant Künstler einladen kann, mit dem er Programm machen kann. Der Personalapparat ist relativ geschützt über Personalräte, die zu Recht Arbeitsplätze schützen. Aber im Zugriff des Kämmerers, der vor Not nicht mehr weiß, wo er hin packen soll, werden die Freiwilligenausgaben schutzlos dem Zugriff ausgesetzt ist, weil es weder eine Verpflichtung von der Kommune gibt, so etwas zu machen, noch sind die Arbeitsplätze über Personalvertretungen abgesichert. Da kann innerhalb von einer Sekunde weggeräumt werden und es gäbe keine Möglichkeit dagegen vorzugehen, außer politisch dagegen zu argumentieren. In Moers kommt noch die spezielle Situation hinzu, dass dieses Festival noch nie „Everybodys Darling“ war, das es von einem starken Teil der Stadtgesellschaft gewollt, aber auch von einem genauso starken Teil nicht gewollt wurde.

Dänisch-Deutsches Frauenduo mit Kraftbesetzung: Red Little Bang Bang


Welcher Teil der Stadtgesellschaft…?

Sagen wir mal der konservativere Teil der Stadtgesellschaft. Obwohl man das auch nicht so verallgemeinern kann, das geht manchmal quer durch die Parteien. Es gibt einen Teil von Leuten – gerade auch in der Politik – die das Festival stützen und stärken, und andere, die es schon immer weg haben wollten. Denen spielt natürlich diese Finanzkrise in die Taschen. Sie müssen nicht mehr inhaltlich argumentieren, warum sie das Festival nicht mehr haben wollen, sie können einfach sagen: „Weil wir kein Geld haben, können wir uns das nicht mehr leisten.“ Das ist die Debatte, die momentan stattfindet. Das macht es den Befürwortern natürlich relativ schwer. Die Kommune ist da an einem Punkt, an dem sie keine eigenen Lösungen mehr schaffen kann, weil sie selber kein Geld mehr hat. Sie wird von außen, vom Landrat oder von anderen sie kontrollierenden Einheiten zur Selbstverstümmelung gezwungen. Bund und Länder müssten diese Problemlage erkennen und sagen: „Nein, da muss gegengesteuert werden, da muss ein Rettungsschirm gespannt werden, der verhindert, das wichtige, sensible, kulturelle Aktivitäten in dieser Krise verloren gehen.“

Könnte man einen Zusammenhang sehen, wenn „systemrelevante“ Banken gerettet, Kulturveranstaltungen gestrichen werden und Kommunen Kindergärten schließen?
Ich würde es nicht so einfach darstellen, weil es tatsächlich komplexer ist. Aber wenn man die Ergebnisse betrachtet, kann man zu diesem Ergebnis kommen. In der Demokratie besteht die wichtigste Aufgabe des Politikers darin, Mehrheiten hinter sich zu bringen. Dabei gerät nicht selten der Schutz der Minderheit, der Schutz der anderen Meinung in Vergessenheit. Hier einen Ausgleich zu schaffen, ist die große Kunst in der Demokratie. Wenn man wirtschaftliche Maximierungsinteressen völlig ungebremst, völlig ungezügelt zulässt und Dinge wie Anstand, Moral, Gewissen und Sinn für Gerechtigkeit völlig ausgeschaltet, entsteht eine ungerechte Gesellschaft. Dann muss diese Gesellschaft sich wehren. Es gibt mehrere Beispiele, in denen Gesellschaften sich widersetzen, sich auseinandersetzen und oft als „Wutgesellschaft“ missinterpretiert werden. Diese Bewegungen, wie z. B. die Occupy-Bewegung, haben sich auf den Kulturbetrieb noch nicht so ausgewirkt, sondern eher auf andere Lebensbereiche. Der Kulturbereich hat es in der Tat schwer, da er noch nicht über eine mehrheitsfähige Lobby verfügt. Die Kultur, je anspruchsvoller sie ist, wird von teilweise sehr kleinen Gruppierungen getragen und hat damit in unserer Demokratie einen schweren Stand.

Kenner, Liebhaber und Neugiereige: Das Publikum im Fesitval-Zelt


Der Fluch der Systempolitik…

Selbstverständlich bieten Krisen auch immer die Chance für Veränderung, ja sogar die Chance, Ballast abzuwerfen und neue Aufgaben anzugehen. So kann es passieren, dass weniger auffällige Angebote hinweggefegt werden, während andere auch den stärksten Sturm überdauern. Alle Moerser wissen, dass das Festival über eine sehr große Leuchtkraft für die Stadt verfügt. Die negativen Signale, wenn das Festival tatsächlich verschwände, also in Moers die Lichter ausgingen, wären für die Stadt verheerend. Das haben diejenigen konservativen Kräfte, die das Festival schon immer loswerden wollten, noch gar nicht zu Ende gedacht. Sie prosteten sich vielleicht, wenn das Festival weg wäre, zu und sagten: „Da haben wir das Ding endlich weg!“, aber es käme ja an dieser Stelle nichts Neues. Die Stadt hat gar keine Dispositionsmöglichkeiten. Es geht nicht um Umverteilung, sondern ausschließlich um Kürzung. Die Opposition in der Stadt versucht den Bürgern immer noch einzureden, dass es um Verteilungskämpfe geht, um sie gegeneinander auszuspielen, nach dem Motto: „Es kann doch nicht sein, dass wir den Behindertendienst der Stadt reduzieren, aber uns so ein teures Festival leisten.“ Selbst wenn man das Festival komplett einstellt, würde der Behindertendienst der Stadt keinen Cent mehr bekommen.

Was erwarten Sie sich von der neuen „Improviser in Residence“ Ingrid Laubrock, die jetzt ein Jahr lang in Moers arbeiten und leben wird?
Das ist jetzt das fünfte Jahr in dem wir sind. Wir wussten alle nicht, wie sich das entwickeln wird. Wir können feststellen, dass die Akzeptanz jedes Jahr gewachsen ist. Die Entscheidung Ingrid Laubrock zu holen hat damit zu tun, dass wir damit eine überregionale Kompetenz stärken wollten, weil Ingrid international unterwegs ist und sehr stark vernetzt ist. Speziell in diesem fünften Jahr war es uns besonders wichtig, hier jemanden vor Ort zu haben, der als Kommunikator die Existenz dieser Institution noch stärker nach Außen spiegelt. Gerade im internationalen Kontext hat man zum ersten Mal von dieser Institution „Improviser in Residence“ gehört und George Lewis, ein sehr wichtiger Musiker in den U.S.A., der einen Lehrstuhl hat an der Columbia University für Improvisierte Musik hat, hat mir vor kurzem mitgeteilt, dass sie das nach dem Moerser Vorbild seit 2010 auch so machen und einen „Improviser in Residence“ haben. Das schlägt jetzt immer mehr Wellen. Der Job besteht darin, sich in die Kultur der Stadt einzubringen und hier Angebote auf den verschiedensten Ebenen, für Schulen, Musikschulen, aber auch im Bereich der Politik und des Wirtschaftslebens zu machen. Der „Improviser in Residence“ hat durch dieses Mandat eine Art Amt inne. Man ist nicht irgendjemand, der jetzt kommt und sich beim Bürgermeister meldet, sondern man ist der „Improviser in Residence“. Das ist eine Stellung, die den MusikerInnen den Zugang zu der Stadtgesellschaft sehr viel einfacher macht. Sie werden fast überall offen empfangen.

Nu Jazz aus Montreal, Quebec: Carl Stetson


Was können Sie bereits zum kommenden Programm des Moers Festivals sagen?

Reiner Michalke
Foto: Paul Essex
Reiner Michalke ist seit 2006 Künstlerischer Leiter des Moers Festivals sowie des von der Kunststiftung NRW geförderten Dachprojektes „nimm“ ist (Netzwerk Improvisierte Musik Moers). Das Projekt „Improviser in Residence“ ist eines von sechs Unterprojekten.

Carla Bley wird zwei Auftritte machen, ein sehr großes Projekt, davon eine Welturaufführung. Sie schreibt was für Moers, ein neues Stück für Big Band und einen Knabenchor, eine ziemlich aufwendige Geschichte, auf die wir sehr gespannt sind. Es wird einige bekannte Leute geben. Carla Bley wird zum ersten Mal überhaupt in Moers sein, aber es wird auch viele junge Musiker und Musikerinnen geben, die zum ersten Mal in Europa sind und sich vorstellen werden.

Also keine kurzfristigen Überraschungen wie im letzten Jahr mit Ornette Coleman?
Das weiß man nie. Ornette Coleman hatten wir angekündigt und dann kamen so viele Anfragen von Leuten, die den Tag wissen wollten, an dem er spielt. Wir haben gedacht, dass kann nicht sein, dass die Leute nur für Ornette Coleman kommen wollen, wenn wir ein ganzes Festival machen. Wir das dann wieder zurückgeholt und gesagt, dass er nicht kommt, weil wir offen gesagt nicht die Leute haben wollten, die nur für Ornette Coleman kommen und sich für das andere überhaupt nicht interessieren. Wir haben ja ein Festival, wo viele Gruppen spielen, die für mich erst mal alle gleichwert sind und auf die ich mich alle gleichmäßig freue.

Moers Festival I 25.-28.5. I Karten: 0180 54 03 00 I www.moers-festival.de

Interview: Dawid Kasprowicz

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