Er ist natürlich das Ereignis auf der Frankfurter Buchmesse (6.-10.10.). Er war es auch, als er nur einen mehr oder minder schwachen Abglanz seiner „Korrekturen“ produzierte, die ihn 2001 jäh in den Literatur-Olymp katapultierten. Doch jetzt meldet sich Jonathan Franzen tatsächlich zurück; mit kaum mehr für möglich gehaltener Fulminanz. Entgegen der Vielzahl belletristischer One-Hit-Wonder hat sich der Amerikaner wieder seiner Stärken besonnen respektive diese sogar verfeinert. Sprachlich weniger prätentiös verschwindet der Autor von „Freiheit“ (rowohlt]) hinter seinem mühevoll ausbaldoverten und doch überaus realistischen Mikrokosmos Familie; jener primären Bezugsgruppe des Menschen also, deren Hauptaufgabe in der Sozialisation liegt und die doch zugleich immer wieder aufs Neue Kristallisationspunkt individueller Sehnsüchte und Begierden ist.
In krassem Kontrast zum mit feiner Feder gezeichneten klassischen Familienroman präsentieren sich Franzens postmoderne ‚Widersacher‘. In ihrer Klinge spiegelt sich weitaus klarer die jeweils aktuelle Schieflage der westlichen Gesellschaft. So nahm sich William Gaddis in seiner bereits 1975 veröffentlichten und jetzt in Deutschland wieder aufgelegten Satire des immer wilder wuchernden Kapitalismus‘ an, indem er in seiner Version von „JR“ (DVA) einen neunmalklugen Knaben das Big Business aufmischen ließ. Paul Auster hingegen begibt sich mal wieder auf einen postmodernen Parforceritt, was den Romanaufbau betrifft. Frei nach dem Motto „Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt“ lässt er sein Handlungskonstrukt regelrecht eskalieren – und doch „Unsichtbar“ (rowohlt), inwieweit der Mensch in seiner Urtriebhaftigkeit überhaupt in moralische Normvorstellungen zu pressen wäre.
Der Mensch als Tier, das sein Recht auf Selbstverwirklichung einem Banner gleich vor sich herträgt? Kein Wunder, dass die Ethik an ihre Grenzen stößt und selbsternannte Moralapostel als moderne Gurus über Gebühr Gehör finden. Vielleicht sollte man in der popkulturellen Historie nochmal 80 Jahre zurückblättern, an den Zeitpunkt, als sich die „Roaring Twenties“ in der „Great Depression“ auflösten und sich die Menschen erneut auf den Weg machen mussten, um ihren individuellen Platz in der Welt zu suchen. Entsprechend schmal ist hier noch der Grad, auf dem die Protagonisten zweier herausragender Werke dieser Tage – John O‘Haras „Butterfield 8“ (dtv) und William Faulkners „Licht im August“ (rowohlt) – wandern: voller Leidenschaft und doch immer im Schatten der jeweiligen gesellschaftlichen Repressalien, denen sie nicht entkommen können.
Geradezu fantastisch mutet da die Schneise an, welche sich die Beatnicks rund um Kerouac, Ginsberg & Co. zwei Dekaden später in puncto Selbstverwirklichung schlagen konnten. Erfolg und Absturz, Glücksrausch und Drogenabhängigkeit als neoromantisch verklärte Antipoden, die in der von Harvey Pekar und Paul Buhle herausgegeben Graphic-Novel-Geschichte der „Beats“ (Walde+Graf) noch einmal das Faszinosum aufleben lassen, das heute noch jedem Popstar gut zu Gesicht steht. Aber bitteschön nur im penibel abgegrenzten Rahmen des Showbizz‘. Innerhalb des limitierten Bürgertums gelten derart größenwahnsinnige Auswüchse weiterhin als streng zu sanktionierende „Ruhestörung“ (DVA), die einzig und allein mit geistiger Unzurechnungsfähigkeit erklärt werden können; wie das Beispiel des vermeintlich gesattelten Familienvaters zeigt, der plötzlich ausbricht, um sein Glück höchstselbst beim Schopfe zu packen. So ist es denn – wie weiland die „Zeiten des Aufruhrs“ den „Korrekturen“ – auch diesmal wieder eine deutsche Erstveröffentlichung von Richard Yates, die in ihrer genialen Konnotation von Allgemeinem und Besonderem Jonathan Franzen zeigt, was eine Harke ist.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.

Vom Olymp in den Hades
Planet of Zeus in Bochums Trompete – Musik 11/25
„Liebe auf den ersten Blick“
Sebastian Lang-Lessing ist neuer Generalmusikdirektor am Theater Hagen – Interview 11/25
Fluxus trifft Free Jazz
Konzertreihe Klangbilder im Kunstmuseum Bochum – Musik 11/25
Zu den Wurzeln des Punk
11. Electri_City Conference in Düsseldorf – Musik 10/25
Alle Fenster auf
Brown Horse in der Haldern Pop Bar – Musik 10/25
Nicht mehr wegzudenken
Das Wuppertaler Jazzmeeting 2025 – Musik 10/25
Im Rausch der unerhörten Klänge
Beyond Dragons im Dortmunder Domicil – Musik 10/25
„Das Streichquartett in die Zukunft führen“
Der Geiger Daniel Stoll über die Residenz des Vision String Quartets in der Tonhalle Düsseldorf – Interview 10/25
Der Klang verwüsteter Hotelzimmer
4. Formosa Bierfest auf der Essener Zeche Carl – Musik 09/25
Zu Gast mit Gästen
Die WDR Big Band in der Wuppertaler Immanuelskirche – Musik 09/25
Bis das Regime gestürzt ist
Mina Richman im Bochumer Bahnhof Langendreer – Musik 09/25
Brachiale Schönheit
Gaye Su Akyol in Duisburg, Suzan Köcher's Suprafon in Dortmund – Musik 09/25
Ohne Grenzen
74. Ausgabe der Konzertreihe Soundtrips NRW – Musik 09/25
Freier Dialog im Depot
Visual Sound Outdoor Festival in der Dortmunder Parzelle – Musik 08/25
Der Sound von Istanbul
Gaye Su Akyol im Landschaftspark Duisburg-Nord – Musik 08/25
Vom Tanzen träumen
Die NRW-Tour der Jazzpianisten Chris Hopkins und Ulf Johansson Werre – Musik 08/25
Das Netz der Menschenliebe
Joan As Police Woman auf dem Haldern Pop Festival – Musik 07/25
Nicht nur für Orgelfans
16. Wuppertaler Musiksommer in der Historischen Stadthalle – Musik 07/25
Klänge der Gegenwart
Konzertreihe mex im Künstlerhaus Dortmund – Musik 07/25
„Jüdische Musik in der Region verankern“
Die Leiterin der Alten Synagoge Essen, Diana Matut, zum Festival jüdischer Musik Tikwah – Interview 07/25
Impossible Dortmund
Wilco im Dortmunder JunkYard – Musik 06/25
Gegen die Stille
Das 54. Moers-Festival – Musik 06/25
Magische Momente
Cat Power im Düsseldorfer Capitol Theater – Musik 06/25
Eine große Ausnahme
Der Pianist Alexandre Kantorow in Wuppertal – Musik 06/25
Lieber ins Meer springen
Slow Leaves im Düsseldorfer Zakk – Musik 05/25