Tags, wenn es draußen hell ist, sind sie kaum zu sehen. Erst im Schutz des nächtlichen Zwielichts zeigt die Dortmunder Nordstadt ihre dunkle Seite: eine Welt von Sex, Drogen und Menschenhandel. Eine Welt, die es offiziell in der Nordstadt gar nicht gibt – denn die Stadt schloss vor zwei Jahren den Sperrbezirk.
Doch rund um den Nordmarkt, die Münsterstraße und den Borsigplatz floriert das Geschäft mit der Lust weiterhin. Um all die, für die Sex ein Job ist, kümmert sich die Mitternachtsmission Dortmund e.V. In diese Arbeit geben Maike Serge und Heike Müller am Freitagabend im Rekorder Einblicke – und erzählen von den Menschen hinter dem Label Prostitution.
Viele Frauen warten an der Straße oder in Kneipen auf Freier, arbeiten in ihrer Wohnung oder in der des Freiers, der sie per Telefon bestellt wie ein Fertiggericht. Die Mitarbeiterinnen der Mitternachtsmission besuchen die Frauen da, wo sie arbeiten. Beraten bei Krankheiten und helfen, wenn Frauen aussteigen wollen – denn die Sexarbeit ist längt keine Arbeit wie jede andere: Nicht jeder geht ihr freiwillig nach. Der älteste Schützling von Maike Serge und Heike Müller, Müller und ihren Kolleginnen ist bereits über siebzig. Sie stockt durch die Sexarbeit ihre magere Rente auf. Andere verkaufen nur gelegentlich Sex für Geld, um ihren Kindern die nächste Klassenfahrt oder einen neuen Tornister bezahlen zu können – und manchmal sind es die Kinder selbst, die anschaffen gehen. Ihnen können die Mitarbeiterinnen der Mitternachtsmission kaum helfen, denn sie suchen ihre Freier eher über das Internet als auf der Straße.
Bis auf die Treppe hat sich das gespannt lauschende Publikum verteilt. Viele haben Fragen, die Serge und Müller gerne beantworten. So auch, woher die Frauen stammen: Viele der Frauen, die sie betreuen, wurden aus Afrika oder Osteuropa unter falschen Versprechungen nach Deutschland gelockt. Doch statt in einem sicheren Job oder an der Uni landen die meisten von ihnen eingesperrt in einem Bordell, ohne Ausweis oder Hoffnung. Nur für ein kleines Taschengeld müssen sie zulassen, dass fremde Männer mit ihnen machen, was sie wollen. Viele Frauen aus Bulgarien werden von ihren eigenen Angehörigen zum Anschaffen gezwungen. „Denen müssen wir erst mal erklären, dass die sich das nicht gefallen lassen müssen“, sagt Müller.
Einige wenige vertrauen sich der Polizei oder einem Freier an, andere wenden sich direkt an die Mitternachtsmission. Die Mitarbeiterinnen helfen bei der Flucht aus dem Milieu und suchen einen sicheren Weg in die Zukunft. Doch viele der verschleppten Frauen haben Angst vor den Zuhältern – oder vor einem Voodoo-Fluch, mit dem sie vor der Abreise aus ihrem Heimatland belegt wurden. Manche wurden von den Schleppern drogenabhängig gemacht. Wie die überwiegende Mehrheit der Schützlinge der Mitternachtsmission finanzieren sie sich ihre Sucht mit Prostitution. Etwa dreihundert Euro müssen viele von ihnen alleine für den Stoff aufbringen. „Die Frauen arbeiten in der Beschaffungsprostitution nicht zum Spaß“, erklärt Serge. Einige stark abhängige Frauen sind teilweise über 24 Stunden am Stück an den fraglichen Orten anzutreffen. „Oft sind es Frauen, die vom üblichen Hilfssystem ausgeschlossen sind“, sagt Serge. Die Mitarbeiterinnen der Mitternachtsmission können die Umstände mit ihrer Arbeit allein nicht ändern. Mit einem Runden Tisch, an dem Vertreter von Stadt, Kommunen und Verbänden zusammenkommen, wollen sie es jedenfalls versuchen. Bis dahin können sie bei Problemen mit Behörden helfen, mit einem warmen Kaffee oder Kondomen – und den Frauen einfach mal zuhören.
Weitere Informationen: www.standort-dortmund.de/mitternachtsmision
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