Ein Tanzfestival, rein digital? Den aktuellen kulturellen Umständen entsprechend macht „tanz nrw 21“ es möglich – und lässt tatsächlich Festivalatmosphäre aufkommen. Seit dem 28. April werden Live-Performances, aufgezeichnete Veranstaltungen und experimentelle Videokunst gestreamt.
Die eindeutigen Vorteile gegenüber einem Fest vor Ort sind erstens, dass einige der Streams flexibel und „on demand“ verfügbar sind – sie können also teilweise zu selbst gewählten Zeiten angesehen werden. Und zweitens: Man verliert kaum Zeit zwischen den einzelnen Darbietungen, obwohl sie mitunter in verschiedenen Städten stattfinden.
Natürlich, das Reisen von einem Ort zum anderen, die Gespräche im Foyer, die mit der Menge der Besucher geteilte Aufregung und Vorfreude fehlen. Stattdessen sitzt man nun höchstens zu zweit vorm Heimcomputer und hat vielleicht für die Musik noch die eigenen Boxen angeschlossen. Doch „tanz nrw 21“ gibt sich Mühe, die einsamen Zuschauer einzufangen.
Manchmal fast wie im Theatersaal
Vor den Aufführungen gibt es Einführungen, danach geht es über Zoom direkt ab in den Artist-Talk, bei dem den Performern und Choreografen direkte Fragen gestellt werden können. Auch im Chatfenster neben dem jeweiligen Stream kann sich ausgetauscht werden – diese Funktion wird jedoch vor allem für Jubelbekundungen genutzt.
Jeden Tag steht ein reichhaltiges Programm bereit, das man teils stundenlang hintereinander weggucken kann. Zum Glück tritt hier jedoch nicht der gleiche Effekt ein wie beim Netflixen. Man hat nicht das Gefühl, seine Zeit an überproduzierte Einheitsbrei-Serien zu verlieren. Mit ein bisschen Einfühlungsvermögen sitzt man plötzlich wieder im Theatersaal und genießt Hochkultur.
Besonders gelingt dies interessanterweise nicht bei den live übertragenen Streams, sondern bei den gezeigten Aufzeichnungen aus antiken Vorcoronazeiten. Da hustet und niest es aus dem Publikum, der Kamerablick schweift über die Reihen von Frisuren, und schon fast riecht man die dunkle Luft aus dem Orchestergraben, hört das Quietschen der Streicher direkt am Ohr und spürt den Vordersitz an den Kniescheiben.
Am Anfang war die Selbstdarstellung
Unter anderem bei der Vorführung von „Bilderschlachten / Batailles d’Images“ von Stephanie Thiersch und der Kölner Kompagnie Mouvoir kam eine solche Stimmung auf. Natürlich weckt diese Performance auch die Sehnsucht danach, selbst inmitten der über den Raum verteilten Musiker zu sitzen und von deren erzeugter Geräuschkulisse und den optischen Eindrücken auf der Bühne überwältigt zu werden: Das Bühnengeschehen wechselt zwischen verspielt-übertriebenem Quatsch und brutalem Krieg, um die komplette Bandbreite der bedingungslosen Selbstdarstellung abzuarbeiten. Hier kommt nach der Schöpfung direkt das Ego. Das Asasello Quartett spielt noch bis zum Schluss, als alle anderen schon zurück in den Ursumpf gesunken sind. Oder leitet es über zur „Ultimativ positiven, performativ installativen, relativ alternativen Schöpfung“, einem 15-Minuten-Stück, das noch im Anschluss angesehen werden kann?
Sehnen nach Berührung und Nähe
Am Freitag fliegen die Emoji-Hüte und Luftballons im Stream schon, bevor das Stück von Emanuele Soavi, „ATLAS 3 – Blu Blu Blu“, beginnt. Erneut handelt es sich um eine Aufzeichnung, diesmal vom Februar 2020, kurz bevor alles losging. Der Tänzer startet im kleinen Raumquadrat, hinter Wänden mit Sichtscheibe taucht seine Partnerin auf – man kommt nicht umhin, die Darstellung vor dem Pandemiehintergrund neu zu interpretieren.
Auf der Suche nach der Grenze ihrer Körper, nach Nähe, gelangt das Duo in eine Überschreitung durch Verschmelzung und drückt das Bedürfnis nach einem Gefühl von Haut auf Haut aus. Zu betörender Live-Musik von Violinistin Nadja Zwiener ist man als Zuschauer dann doch immer damit beschäftigt, so zu tun, als würde es einen völlig kalt lassen, fremde Brüste und Penisse zu sehen. Wenigstens muss man die peinliche Berührtheit digital nicht mit anderen Menschen im Raum teilen.
Choreograf Raymon Liew Jin Pin untersucht in experimentellen, „happengroßen“ Videoclips gleich, wie sich ein Mensch im Zeitalter des Individualismus und der Virtualität am besten selbst berühren und anfassen kann. Das unverkennbare Geräusch der männlichen Selbstbefriedigung wird hier jedoch durch das stetige Klatschen von Händen auf andere Körperteile erzeugt, bis es eine scheinbare ASMR-Atmosphäre kreiert.
Experimentelle Video-Recherchen
Mindestens interessant, eher bereichernd sind die Ergebnisse der „Sprungbrett <> Tanzrecherche NRW“, einer Förderung des Festivals gemeinsam mit dem NRW Kultursekretariat. Diese wurde in diesem Jahr zwei Gruppen zugesprochen: dem Duo Igor Meneses Sousa und Paula Pau sowie dem Kollektiv Feminine X, das sich aus den Tänzerinnen Joana Kern, Sonja Reischl und Wenta Ghebrehiwet zusammensetzt.
Beide Gruppen durften im Rahmen der Recherche für zwei Wochen das Tanzhaus NRW in Düsseldorf und PACT Zollverein inklusive finanzieller und professioneller Unterstützung als Residenzen nutzen. Noch bis Samstag sind die Zwischenergebnisse im Video-on-Demand zu sehen. Meneses Sousa und Pau setzen sich darin mit der Rolle ihrer Queerness vor dem Hintergrund konservativer Religionen und Spiritualität auseinander.
Merkwürdige Animationen religiöser Elemente leiten über zwischen dem schrägen, wie Gebet anmutenden Gesang der Performer in Paillettenjacken. Immer wieder laufen mehrere Aufnahmen gleichzeitig in 3D-animierten Rahmen und verbinden sich zu einer vielschichtigen Form – die ebenfalls untersucht und angegriffen wird, als Tänzerin Paula Pau beginnt, die Rahmungen und die Kamera selbst wegzuschlagen.
Ausbrechen aus Form und Geschlechterklischees
Die Künstler befinden sich in einer Ausnahme-Aufnahmesituation, wären die Ergebnisse der Recherche doch ursprünglich in einer Liveperformance gezeigt worden. Aus dieser Situation holen sie jedoch raus, was ihnen möglich scheint: „Was sehe ich hier eigentlich grade?“, mag man sich fragen, wenn Meneses Sousa nur mit Lackstiefeln bekleidet im Dornenkronenrahmen um sakral aufgestellte Teelichter herumtanzt.
Das Frauenkollektiv der zweiten Gruppe beginnt in ihrem Teil des Streams mit einer belebenden Darstellung von weiblicher Kraft und Lebensfreude, um sich daraufhin mit der Frage der eigenen Weiblichkeit auseinanderzusetzen. Dabei mischen Kern, Reischl und Ghebrehiwet die Tanzstile Hip-Hop und Krump mit zeitgenössischen Elementen und versuchen über den Zweifel auch aus (pop)kulturellen Prozessen auszubrechen.
Das Festival geht noch bis zum 9. Mai. Online können verschieden bezahlbare Tickets für die einzelnen Streams erstanden werden, manche Angebote sind auch kostenlos.
tanz nrw 21 | bis 9.5. | www.tanz-nrw-aktuell.de
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