Ein Gastspiel von Florentina Holzinger in Köln war eigentlich lange überfällig. Wer sich den Puls der Zeit am Theater messen lassen will, muss eines der textilfreien Spektakel der Wiener Multimediakünstlerin gesehen haben. Ehrungen fliegen Holzinger im Moment von allen Seiten zu. Mit „Ophelia’s got talent“ präsentierte sie in Köln jene Produktion, die 2023 den Faust, Deutschlands wichtigste Auszeichnung im Bereich der darstellenden Kunst, erhalten hat. Der Titel deutet es schon an, die Talentshows, in denen Fernsehvolk und Social Media-Blase launisch ihre Sympathien verteilen dürfen, nimmt Holzinger mit lässigem Spott aufs Korn. Die Jury ist ebenso nackt wie die Kandidatinnen, eine Entscheidung, die auch 2025 noch Tabus aus den Angeln hebt. Nacktheit hat bei Holzinger nichts Voyeuristisches, dafür setzt sie sie zu offensiv ein.
Ein befreiender Gestus existiert aber durchaus in der Fröhlichkeit, mit der hier alle Akteurinnen ohne Hosen agieren. Unverbindlich bleibt diese Nacktheit aber nicht, wenn in Großaufnahme Selbstverletzungen am Körper vorgenommen werden, eine Zuschauerin eben mal ein Tattoo gestochen bekommt oder eine Akteurin vermeintlich im Wasserbehälter ertrinkt. Mit dieser Szene packt Holzinger ihr Publikum an der Kehle. Plötzlich ist es still im Depot des Schauspiels Köln. Umso ausgelassener geht es dann weiter in den großen Wasserbecken mit einer Show, in der die Männerwelt der Matrosen von Frauen bevölkert wird. Holzinger behandelt die weiblichen Wassergeister Undine, Melusine und die Nymphenwelt als Opfer patriarchaler Dominanzfantasien und feiert zugleich enthusiastisch ihre Befreiung. Drastische Bilder wie das Aufschneiden eines künstlichen Bauchs oder der spektakuläre Einsatz eines Hubschraubers, der kübelweise Sperma absondert, lassen in ihrer vitalen Wucht das Pathos verbiesterter Gesellschaftskritik hinter sich.
Das alles funktioniert nur am Theater, weil nur dort die Unmittelbarkeit menschlicher Körper, auf die Florentina Holzinger setzt, so eindringlich erlebbar ist. Katharsis definiert sich über Schrecken und Lust, Holzinger bringt beide wieder in Funktion. Das gelingt ihr ebenso erfrischend provokant, wie sie sich aus dem feministischen Forderungskatalog verabschiedet und weibliche Kraft als gegeben betrachtet. Souverän schreitet Holzinger über die Ruinen überkommener Geschlechterrollen hinweg.
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